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II“ an der Donaumündung noch auf das Eintreffen der Gruppe und fuhr dann ab, um andere Flüchtlinge zu befördern. Im allerletzten Moment vor dem Überfall der Wehrmacht auf Jugoslawien konnte noch eine ungefähr 200köpfige Gruppe von jüngeren Teilnehmern mit Jugendzertifikaten legal am Landweg in das rettende Palästina weiterreisen. Darunter befanden sich auch die aus Wien stammenden Lilly und Arye Weiss, die Herta Reich später in Israel durch Zufall wieder getroffen hat, woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte. In Sabac hatte sich mittlerweile Hoffnungslosigkeit breitgemacht: Die Chawerim [Freunde, Kameraden] waren fatalistisch geworden. Das heifst, die österreichischen und deutschen Juden vom Transport; aber nicht die polnische Gruppe. Die Polen hatten immer ein Gefühl für Gefahr. Sie hatten Initiative und verloren nie die Hoffnung. Sie suchten Verbindungen mit dem Betar [Jugendorganisation der zionistischen „Revisionisten“] und dem polnischen Konsulat in Belgrad.’ Während den meisten TIransportteilnehmern die Schicksalsgemeinschaft der Großgruppe bei aller Verzweiflung ein gewisses Maß an Zusammenhalt, Geborgenheit und fiktiver Sicherheit vermittelte, betrachteten Romek Reich und seine polnischen Freunde Sabac als Falle, aus der es zu entkommen galt. Sie entfernten sich immer wieder ohne Erlaubnis der Transportleitung, um Auswege zu erkunden: Ende März kam Romek aus Belgrad zurück mit der freudigen Nachricht, in einigen Tagen für alle Polen Pässe zu erhalten, und sagte zu mir, dass wir am nächsten Tag heiraten würden, um mich mitzunehmen, wenn sie den Transport verließen. Sie wollten nichts mehr wissen von diesem verlorenen, unglückseligen Transport. In Belgrad hörten sie viel über die politische Situation, lasen Zeitungen, wussten, es würde bald Krieg mit Jugoslawien sein. So heirateten wir am 24.März 1941 bei einem sephardischen Rabbiner in einem Büro des Lagers.® Nachdem die polnischen Freunde erneut nach Belgrad aufgebrochen waren, überschlugen sich dort die Ereignisse. Die deutschfreundliche Regierung war gestürzt worden. Als Antwort erklärte Nazideutschland Jugoslawien den Krieg und zerstörte Belgrad durch einen Luftangriff. Inmitten des Bombeninfernos befanden sich Romek Reich und seine Freunde. Aus dem verlassenen polnischen Konsulat konnten sie noch Blankopässe mitnehmen. Als am Tag darauf $abac beschossen wurde, machte sich die zurückgebliebene Herta Reich mit fünf Freunden ebenfalls auf den Weg und wagte das große Risiko: Weg von den vorrückenden Deutschen, um Romek zu finden und die Freunde. Das waren meine einzigen Gedanken. Vielleicht gab es eine Möglichkeit in Sarajevo, wo alle Flüchtlingswege zusammenliefen. Wir hatten nichts. Kein Geld, kein Essen, nur die Kleider am Körper.’ In den bosnischen Bergen wurden die Flüchtenden von betrunkenen und bewaffneten Männern angehalten, die sich bei der Inszenierung einer Scheinexekution an der Angst der Gruppe ergötzten. Anschließend wurde Herta Reich Opfer einer Vergewaltigung; später verschwanden die beiden Gewalttäter. Beim Weitermarsch war Herta Reich Zeugin der Auflösung der jugoslawischen Armee. In Sarajevo fand sich keine Spur von Romek. Herta Reich trennte sich von den zur Adriaküste weiterziehenden Fluchtgefährten in der Hoffnung, dass Romek vielleicht von Belgrad nach Sabac zurückgekehrt sei. Abermals bekam sie Malaria. Die Bank einer Synagoge diente ihr als Krankenlager, wo sie der Rabbiner mit Wasser versorgte. Noch total geschwächt, machte sie sich nach der Kapitulation in einem überfüllten Zug zurück auf den Weg nach Sabac: Als der Zug nach Belgrad einfuhr und stehen blieb, geschah das Unglaublichste, das größte Wunder während der ganzen Flucht. Ein Zug 52 ZWISCHENWELT am nächsten Gleis war gerade dabei, in die entgegengesetzte Richtung hinauszufahren. Plötzlich schrie jemand: „Herta, Romek lebt. Er ist in Dalmatien.“ Und gab mir von Fenster zu Fenster einen Brief von Romek. Ich konnte es nicht fassen. Der Junge war einer von der polnischen Gruppe. Er war mit Romek und den anderen aus dem brennenden Belgrad nach Dalmatien geflüchtet, kehrte allein nach Sabac zurück, um seine Schwester zu retten, und fuhr jetzt wieder nach Dalmatien, wo die anderen auf ihn warteten. Er würde Romek berichten, dass ich unterwegs nach Sabac ins Lager bin. Ich besitze den Brief von Romek noch heute, mit einer kleinen silbernen Menora, die im Brief war und von der sich Romek nie trennte. Sie war sein Maskottchen. Sein Brief war so voll Liebe, Mut und Hoffnung, in einer so fürchterlichen Zeit, wo nur Vernichtung, Tod und Chaos existieren. Er schrieb, er werde mich unter allen Umständen aus Sabac herausholen und retten." Romek holte Herta Reich aus dem Lager. Bereits eine Stunde nach seiner Ankunft machten sie sich zu Fuß auf den Weg nach Belgrad: Ohne zu rasten, erreichten wir nach acht Stunden einen Bahnhof vor Belgrad. Dort brach ich vor Erschöpfung zusammen und konnte nicht mehr aufstehen. Romek trug mich in den Zug hinein, der zu unserem Glück über Belgrad nach Süden fuhr. Wir fuhren einen ganzen Tag und eine Nacht, da der Zug immer wieder von den Deutschen aufgehalten wurde. Dass wir ihnen entkamen, war ein Wunder.!! An der Küste gab es ein Wiedersehen mit den anderen Freunden der polnischen Gruppe, mit denen Herta und Romek Reich von nun an gemeinsam die Flucht fortsetzten. „Dalmatien im Frühling ist einmalig schön. Es war ja sozusagen unsere Hochzeitsreise.“'? Der Küste entlang ging und fuhr die Gruppe bis Fiume, wo sie am regulären Grenzübergang nach Italien gehindert wurde. Erst weiter nördlich gelang der nächste Versuch durch die Fluchthilfe eines Bauern und so überschritten sie am 3.Juni 1941 in der Nähe von Postojna die Grenze von Jugoslawien nach Italien. Dort lebte die Flüchtlingsgruppe unter relativ erträglichen Bedingungen von Sommer 1941 bis Herbst 1943 als Internierte im abgeschiedenen Gebirgsdorf Bomba in den Abruzzen: Zum ersten Mal, seit wir auf der Flucht waren, erlebten wir Frieden und eine Ruhe, die nicht von dieser Welt zu sein schienen." Im Oktober 1943 schlugen sich Herta Reich und ihre Freunde in einer weiteren abenteuerlichen Aktion durch die Frontlinien des Krieges zu den Allierten nach Süditalien durch. Die ersten Monate der wiedergewonnenen Freiheit verbrachten sie in einem britischen Displaced Persons-Camp in Bari, von wo sie im Frühjahr 1944 legal nach Palästina weiterfahren konnten. Herta und Romek Reich war dort nur ein kurzes Glück beschieden. 1947 kam Sohn Ronny (heute einer der bedeutendsten israelischen Archäologen) zur Welt. Nachdem die umliegenden arabischen Staaten den Teilungsplan der UNO für Palästina verworfen und den jungen jüdischen Staat Israel angegriffen hatten, zählte Romek Reich zu den ersten Gefallenen des Unabhängigkeitskrieges. Bereits an den Beginn ihrer erschütternden Fluchterinnerungen stellt Herta Reich das Fazit ihres Lebens: Ich war zwanzigeinhalb Jahre alt, als meine Jugend und Zukunft zerbrachen. Vor dem Krieg hatte ich eine äußerst glückliche Kindheit und Jugend voll Lebensfreude. Aufgewachsen bin ich in den Bergen und herrlicher Landschaft. 1938 dann der Zusammenbruch meiner Welt, meiner Jugend und Zukunft. So plötzlich auf grausame Weise allein. Zwei Tage Zeit, um 20 Jahre meines jungen Lebens zurückzulassen, um nie mehr wiederzukehren, einfach so unglaublich, alles zurückzulassen, was Glück, was Heimat war — nichts als Tränen und Trauer mitnehmend. Während des Krieges bis 1944 auf der Flucht. Nach dem Krieg