OCR
Alexander Klein Der nachstehende Bericht kann begreiflicherweise keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; der Berichterstatter, der selbst als Flüchtling Jugoslawien im Mai 1942 zu verlassen gezwungen war, konnte sich bei Abfassung dieses Berichtes im Wesentlichen bloß auf sein Gedächtnis verlassen. Einzig und allein die tabellatische Statistik am Ende des Berichtes gelang es ihm mitzunehmen. Da er jedoch an dem Flüchtlingshilfswerk als Mitarbeiter wesentlichen Anteil hatte, war er imstande, mit Hilfe anderer Mitarbeiter an demselben Werke, die gegenwärtig in der Schweiz als Flüchtlinge leben, die Daten, zumindest in einer allgemeinen Übersicht, zusammenzufassen. Bei der Abfassung dieses Berichts wurde die größtmögliche Sachlichkeit und Genauigkeit der Datenangaben angestrebt [...] Einleitung Um den Aufbau des jüdischen Flüchtlingshilfswerks in Jugoslawien leichter verfolgen zu können, sei vorerst einiges über die Struktur der jüdischen Gemeinschaft in Jugoslawien bemerkt. Jugoslawien, dessen gesamte Einwohnerzahl etwa 15 Millionen betrug, zählte 71.200 Juden, das ist weniger als ein halbes Prozent der Gesamteinwohnerzahl. Die öffentlich-rechtliche Konstitution der jüdischen Gemeinschaft ist in dem Gesetze über die Religionsgemeinschaft der Juden vom Jahre 1929 festgelegt. Auf Grund dieses Gesetzes waren autonome jüdischen Gemeinden in zwei selbständigen Verbänden zusammengefasst, und zwar in dem Bund der jüdischen Religionsgemeinden und in der Vereinigung der jüdischen orthodoxen Religionsgemeinden. Der Bund der jüdischen Religionsgemeinden (BJRG), der die weitaus überwiegende Mehrzahl der jüdischen Gemeinden — 109 teils aschkenasischer, teils sephardischer Gemeinden mit rund 68.300 Seelen umfasste, hatte seinen Sitz in Beograd, während die Vereinigung orthodoxer Gemeinden (VOJG) — 12 kleine Gemeinden mit rund 2.900 Seelen - ihren Sitz in Subotica hatte. Schon daraus ergibt sich, dass der Anteil der orthodoxen Vereinigung an dem Flüchtlingshilfswerk wenig erheblich war; im Wesentlichen beschränkte sich dessen Mitwirkung auf die Befriedigung ritueller Bedürfnisse des strenggläubigen Teiles der Flüchtlinge. Neben diesen zwei Spitzenorganisationen bestand auch ein Rabbinersynod mit dem Großrabbiner der Königreichs Jugoslawien an der Spitze, der gleichfalls einen öffentlich-rechtlich geregelten Status hatte, der, als solcher, mit dem Flüchtlingshilfswerk nicht befasst war. Beide Spitzenverbände und die Gemeinden unterstanden dem Justizministerium in Beograd als Aufsichtsbehörde, genossen aber eine weitgehende Autonomie. Dem BJRG wurde im Staatsbudget ein Jahresbeitrag von rund 900.000 Dinaren [...] zur Verfügung gestellt. Es mag darauf hingewiesen werden, dass in Jugoslawien den Juden die Gleichberechtigung vor dem Gesetze gewährleistet war; tatsächlich wurde sie im Allgemeinen auch gehandhabt; erst in den letzten Jahren vor Eintritt Jugoslawiens in den Krieg wurden, entgegen dem Staatsgrundgesetze, unter auswärtigem Drucke, 54 ZWISCHENWELT Verordnungen erlassen, die hauptsächlich auf wirtschaftlichem Gebiete und auf dem Gebiete des Unterrichts die jüdische Gemeinschaft zum Teil empfindlichen Beschränkungen unterwarf. In dieser Periode machten sich auch sonst antisemitische Strömungen in immer stärkerem Maße auch in Jugoslawien bemerkbar, bis dann der Kriegszustand zwischen Jugoslawien und den Achsenmächten die völlige Zerstörung der bis dahin so stolzen, bewussten und harmonischen jüdischen Gemeinschaft in Jugoslawien herbeiführte. Die größte jüdische Gemeinde war die Zagreber aschkenasische Gemeinde, die rund 10.000 Seelen zählte; es folgte die Beograder sephardische Gemeinde (8.500), die Sarajevoer sephardische Gemeinde (7.000), die Gemeinde in Subotica (4.800), Novi Sad (4.150), Skopje (3.300), Osijek (3.200) usw. Die Leistung der Kultussteuer war in Jugoslawien obligatorisch; in der Besteuerung waren die Gemeinden völlig autonom; es gab in allen jüdischen Gemeinden zusammen rund 14.000 Steuerzahler; das gesamte Jahresbudget sämtlicher jüdischer Gemeinden, das durch die Kultussteuern gedeckt wurde, betrug rund 13 Millionen Dinaren. Mit Ausnahme einiger Weniger, die nach jugoslawischen Begriffen als reich galten, gehörte die größere Hälfte der Juden Jugoslawiens dem Mittelstande an: Kaufleute, Handwerker und Beamte. Ganz beträchtlich aber war die Zahl der Armen, die in ihrer Gesamtheit auch kaum Proletarier im eigentlichen Sinne des Wortes genannt werden konnten, da ein Teil von ihnen, insbesondere in Südserbien, aus Zufallsverdiensten ein mehr oder weniger kümmerliches Dasein fristete. Insbesondere trifft Letzteres auf die Judengemeinden in Bitolj, Stip, Pri$tina und Skoplje, aber auch für Sarajevo (Bosnien) zu. Die äußerste Not dieser Juden — rund 6.000 Seelen — zwang sie, in verfallenen, düsteren Schlupfwinkeln, mehrere Familien in einem einzigen Raume, ein Leben zu fristen, das nebst [...] Unterernährung allen hygienischen Ansprüchen Hohn sprach und die jüdische Gemeinschaft Jugoslawiens veranlasste, zwecks Errettung zumindest des jüngeren Teiles dieses Elements eine Innenkolonisation zu organisieren, deren steter Fortgang dann aber durch die Ereignisse nicht nur jäh unterbrochen, sondern, wie übrigens die gesamte Judenheit, zunichte gemacht wurde. So hatte das Judentum Jugoslawiens, neben der Fürsorge für die nach Jugoslawien geflüchteten Juden, die mit schwerer materieller Belastung verbundene Aufgabe der sozialen und beruflichen Umschichtung und Umsiedlung eines beträchtlichen Teiles der eigenen Judenheit. [...] Es sei zum Schlusse dieser Einleitung noch kurz erwähnt, dass das jugoslawische Judentum [...] einen der bestorganisierten zionistischen Landesverbände der Welt hatte. Es war dies das Ergebnis einer mehr als 40jährigen harmonischen zionistischen Aufbauarbeit. [...] Der Einfluss der jüdischen Renaissancebewegung war im jüdischen öffentlichen Leben Jugoslawiens weitaus vorherrschend und führend, sodass auch die Leitung des BJRG und die Vorstände der überwiegenden Mehrzahl der jüdischen Gemeinden mehrheitlich zionistisch waren. Sie prägte aber auch der gesamten Jugenderziehung, der Kulturarbeit, ja sogar der sozial-karitativen [Arbeit], die immer mehr einen betont produktiven (Berufsumschichtung) Charakter annahm, ihren Stempel auf. [...]