OCR
Die von nun an illegale Flucht nach Jugoslawien nahm aber trotzdem in immer stärkerem Maße [...] ihren Fortgang. Das Hilfskomitee scheute sich nicht, da es Brüder und Schwestern zu retten galt, dabei aktive Beihilfe zu leisten. Innerhalb der Sammellager hatte jeder Flüchtling Bewegungsfreiheit, jedoch von dem jeweiligen Ort durfte er sich nicht ohne Bewilligung entfernen. Je zwei Lagerleiter vertraten die Flüchtlinge gegenüber den örtlichen Behörden; die Behörden selbst mengten sich in die inneren Angelegenheiten der Sammellager nicht ein; die Flüchtlinge hatten Lektüre (Zeitungen, Fachschriften, Bücher), konnten ihren rituellen Bedürfnissen nachleben, wurden umgeschult, trieben Musik, richteten sich mit einem Worte, so gut es ging, harmonisch ein. Reibungen waren selten und leicht zu ebnen. Die vom Hilfskomitee gemieteten Sammellager bestanden aus Hotels, Gaststätten und Privathäusern; neben voller Verpflegung und Wohnung erhielt jeder Flüchtling ein monatliches Taschengeld von Din 50, welches später auf Din 30 reduziert werden musste. Auch alle übrigen erforderlichen Auslagen wurden vom Komitee bestritten. Zu Feiertagen entsendete das Hilfskomitee religiöse Funktionäre. Mindestens einmal wöchentlich wurde jedes Sammellager durch einen Funktionär des Hilfskomitees oder des Frauenkomitees besucht; allwöchentlich erfolgte auch der Besuch des freiwilligen Arztes, soferne das Lager keinen ständigen eigenen Arzt hatte. In Zagreb selbst stellte der Jüdische Nationalverein (Präsident Lav Stern) seine Räumlichkeiten — Aufenthaltsraum, Spielzimmer, Lesehalle — bereitwilligst zur Verfügung, was besonders im Winter den Flüchtlingen zugute kam. Schon während des Jahres 1938 sah man deutlich, dass das System freiwilliger Spenden aus den Provinzorten, wo man mit dem Elend der Flüchtlinge keine unmittelbare Berührung hatte, völlig unzureichend war. Der im Jahre 1938 stattgefundene Kongress des BJRG bewilligte statutengemaf ab 1. Januar 1939 die Einführung einer besonderen obligatorischen Flüchtlingssteuer, „soziale Steuer“ genannt, in der Höhe bis zu 100 Prozent der ordentlichen Kultusgemeindesteuer. Von Seiten der Exekutive des BJRG wurde auf Grund dieses Kongressbeschlusses diese „soziale Steuer“ mit 40 Prozent der regulären Kultussteuer vorgeschrieben, so dass sie im Jahre 1939 eine Summe von Din 5,2 Millionen ergab. Bloß die Zagreber Gemeinde wurde ermächtigt, von der Einführung der „sozialen Steuer“ absehen zu können, da sie im Einvernehmen mit dem Hilfskomitee unter Berücksichtigung der lokalen Mentalität es vorzog, das System freiwilliger Spenden beizubehalten und dieses System die normierten 40 Prozent fast um das Doppelte überstieg: Es wurden in Zagreb selbst durch freiwillige Spenden Din 2,7 Millionen aufgebracht [...]. Selbst als in den Jahren 1940 und 1941 die Sozialsteuerquote auf 60 Prozent erhöht worden war, istin Zagreb das System der freiwilligen Spenden beibehalten worden. Es sei hervorgehoben, dass neben diesem obligatorischen Zuschlag die Sammlung freiwilliger Spenden auch weiterhin einherging und zusätzliche bedeutende Beträge einbrachte. [...] Die sechs jugoslawischen B’nei-B'rith-Logen leisteten ansehnliche Beiträge. Alle jüdischen Vereine und Institutionen wetteiferten im Aufbringen der nötigen Gelder, ohne auch nur im Geringsten die Aktionen für nationale, kulturelle und karitative Zwecke zu beeinträchtigen. [...] Daneben floss ohne Unterbrechung die Sammlung und die freiwillige Erzeugung von Bekleidungs- und Beschuhungsmaterial sowie aller jener Dinge, die teils praktisch nützlich waren, teils zur Hebung der Lebensfreude wirksam beigetragen haben. [...] So blieb es die ganze Zeit unablässig, also auch in den Jahren 1939 bis unmittelbar zur Katastrophe der jugoslawischen jüdischen Gemeinschaft und mit ihr dem Ende auch der Hilfstätigkeit Anfang April 1941. Neue Anstrengungen waren im Jahre 1939 nötig, in welchem die Flucht der Juden aus der Tschechoslowakei große Ausmaße annahm und der Flüchtlingsstrom nach Jugoslawien seinen Höhepunkt erreicht hatte. Als am 2. September 1938 in Italien die Rassengesetze in Kraft traten, suchten in Jugoslawien einige Hunderte jener Juden Zuflucht, die vorher aus Deutschland und Österreich nach Italien geflohen waren. Die Maßnahmen der jugoslawischen Behörden erfuhren eine wesentliche Verschärfung: Hunderte und Aberhunderte wurden bereits in den Einbruchstellen (Susak, Maribor, Dravograd, Murska Subota, Jesenice), andere unterwegs nach Zagreb verhaftet. Durch eindringliche und unablässige Interventionen und Eingaben bei den zentralen und lokalen Behörden, durch mannhafte Vorsprachen beim Ministerpräsidenten und dem Innenminister Jugoslawiens wurde bis auf ganz wenige Ausnahmen immer erreicht, dass die Flüchtlinge nicht zurückgewiesen wurden, so sehr sich auch der Druck von auswärts im öffentlichen Leben Jugoslawiens im stetig steigendem Maße bemerkbar machte. Der Präsident des Hilfskomitees, Dr. Max Pacherhof, der seit Beginn tagtäglich, ohne Unterlass, im Amte und [in] seinem Privatbüro, unermüdlich und unverdrossen, den Tausenden und Tausenden von Flüchtlingen persönlich zur Verfügung stand, sie beriet und ermutigte, genoss bei den Behörden ein umso höheres Ansehen, als seine selbstlose Unermüdlichkeit in der Öffentlichkeit rühmlich bekannt war. Dem ist es zu danken, dass er den Flüchtlingen Aufenthaltsbewilligungen und Verlängerungen derselben erwirkten, Austreibungsverfügungen rückgängig machen, Enthaftungen erlassen, Grausamkeiten und Unbill hindern bzw. reparieren lassen konnte. In einzelnen Fällen fand er wohl auch durch andere Mitarbeiter, unter denen die Rechtsanwälte Dr. Ziga Neumann und Dr. Joel Rosenberger zu erwähnen wären, wirksame Unterstützung. In das Jahr 1939 fällt der Besuch des Hohen Flüchtlingskommissars beim Völkerbunde, Sir Neill Malcolm, und seines Sekretärs, [des] Grafen Duncanon, in Jugoslawien. [...] Hinzu kam, dass die Tatsache dieses Besuches auch bei den Behörden starken Eindruck ausübte und entsprechend eingeschätzt wurde, sodass, als der Sekretär des Zagreber Hilfskomitees (Alexander Klein) die Hilfskomitees in Fiume und Triest aufgesucht hatte, um die Einwanderung von Flüchtlingen nach Jugoslawien zu regeln, durch eine längere Zeit der immerhin illegalen Einwanderung keine erheblichen Schwierigkeiten gemacht wurden. Im Mai 1939 besuchte Sekretär Klein in seiner Eigenschaft des Amtsleiters der jugoslawischen Niederlassung des JOINT auf Einladung des Präsidenten des JOINT, Morris Tropper, neuerlich Paris und auch die Hilfsorganisationen in London. Gegenstand seiner Unterhandlungen war die Frage geschlossener Kindertransporte und weiblicher Flüchtlinge als Hausgehilfinnen aus Jugoslawien nach London. Die Kindertransporte kamen infolge ungemein saumseliger Behandlung seitens englischer Stellen nicht zustande; wohl aber wurden durch das Zagreber Hilfskomitee 50 — 60 Mädchen und alleinstehende Frauen als Haushaltsangestellte nach London abtransportiert und untergebracht. 1-2/2010 57