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Zeugnis und die Noten lesen. Heute bin ich aber stolz darauf, auch ein ungarisches Schulzeugnis zu besitzen. Auch die einheimische serbische Bevölkerung stand uns naturgemäß wenig freundlich gegenüber, weil wir ja aus „Deutschland“ kamen. Klarheit wurde geschaffen, nachdem die Deutschen und die Ungarn im Frühjahr 1941 Jugoslawien überfallen hatten. In völliger Verzweiflung und Verkennung der Lage versuchte mein Vater seine Familie mittels eines angemieteten Pferdewagens in Richtung Rumänien und Bulgarien in Sicherheit vor den Deutschen zu bringen. Rückblickend war dies freilich ein völlig sinnloses Unterfangen. Schon auf der Strasse nach Novi Sad geriet der Pferdewagen unter Beschuss deutscher Stukas und mitten zwischen die kämpfenden Einheiten der jugoslawischen Armee und der aus dem Norden anrückenden Ungarn. Unvergesslich werden mir die Sturzflüge der feindlichen Flugzeuge auf unser Pferdegespann bleiben: Während mein Vater, meine ältere Schwester und ich bei diesen Angriffen eiligst unter dem Leiterwagen in Deckung gingen, gelang dies meiner Mutter nicht. Sie musste auf dem Gefährt ausharren und hielt schützend ihren grossen schwarzen Hutkoffer über den Kopf ihres kleinsten Töchterleins von knapp vier Jahren, das aufihrem Schoss saß. Die uralte Bäuerin, die den Pferdewagen führte, schien von all dem, was da vor sich ging, kaum etwas zu bemerken. Teilnahmslos hielt sie bei Angriffen über Zuruf meines Vaters den Wagen an und wartete seelenruhig, bis man ihr wieder ein Zeichen zur Weiterfahrt gab. Die Flucht vor den Deutschen war aussichtslos. Belgrad war durch die deutschen Bombardements zerstört, auch in Novi Sad fielen die Bomben und zerstörten die Donaubrücke. Der Weg nach Süden, weg von den Deutschen, war verschlossen. Nach wenigen Tagen kehrte der Pferdewagen mit uns und unseren wenigen Habseligkeiten in das „befreite“ Futog zurück, wo nun der volksdeutsche Pöbel das Sagen hatte. Unsere Wohnung hatte er inzwischen so ziemlich von allem, was wir zurückgelassen hatten, gesäubert. Mit großem Bangen sah mein Vater nun dem Einzug der deutschen Truppen in unser Dorf und der neuerlichen Begegnung mit der Gestapo entgegen. Verängstigt und verzweifelt lief er nervös im kleinen Obstgarten unseres Hauses herum. Hinter unserem Haus und nach einigen Feldern verlief die Hauptstrasse von Budapest nach Novi Sad und weiter nach Belgrad. Von dort hörten wir den Lärm vorbeiziehender Panzer und Lastautos. Ich kletterte auf einen Apfelbaum, um von seinem Wipfel einen besseren Ausblick auf die Straße zu bekommen. Tatsächlich konnte ich deutlich die mich ungemein faszinierende Bewegung eines endlosen Trosses von Soldaten und schweren Geräts ausmachen. Ich berichtete meinem Vater, der unten stand und dies alles nicht ausnehmen konnte, genauestens über alles, was ich sah. „Jetzt sche ich auch die Fahnen“, sagte ich, worauf er völlig die Fassung verlor und verzweifelt seufzte, dass er das Hakenkreuz nicht sehen möchte. Ich erklärte ihm, dass ich kein Hakenkreuz sehen könne, sondern nur rot-weiss-grüne Fahnen. Als ich auf mehrmaliges Nachfragen bestätigte, dass es weit und breit kein Hakenkreuz gäbe, hellte sich das Gesicht meines Vaters auf: „Es kommen die Ungarn und nicht die Deutschen, jetzt haben wir doch noch eine Chance!“ Dieser Lichtblick ließ in meinem Vater die Hoffnung aufkeimen, die sich später allerdings leider als trügerisch erweisen sollte, dass er den Schergen der Gestapo entkommen sei und von ihnen nicht mehr verfolgt würde. Tatsächlich wurde die Batschka nicht von den Deutschen, sondern von den Ungarn besetzt, die sich uns gegenüber korrekt und ziemlich desinteressiert benahmen. Nicht so die Schwaben, die in Futog in den ersten Tagen nach der Kapitulation Jugoslawiens ihre eigene Herrschaft errichteten. Sie schmückten ihre Häuser mit riesigen Hakenkreuzfahnen und Bildern des Führers, während die Ungarn ihre rot-weiß-grüne Fahne hissten. Von uns „Deutschen“ erwartete man natürlich auch, dass wir unsere Verbundenheit mit Deutschland und seinem Führer durch Hakenkreuzfahnen zum Ausdruck brachten. Dies brachte mein Vater aber einfach nicht über sich. Er war nur bereit, einen kleinen ungarischen Wimpel am Hauseingang anzubringen. Dies war für die deutschbewussten Volksdeutschen des Dorfes zu viel und wurde von einigen ihrer bewaffneten Aktivisten zum Anlass genommen, ihn zu verhaften und durch das gut zwei Kilometer lange Straßendorf zu einem nazistischen Parteilokal zu eskortieren, vor welchem sie Anstalten machten, ihn zu erschießen. Nach bangen Stunden des Wartens und einem blödsinnigen Verhör durch sehr primitive volksdeutsche Bauern, die sich zu den neuen Herren im Dorf gemacht hatten, wurde mein Vater frei gelassen. Der folgende Spießrutenlauf nach Hause durch die gaffenden Menschen wird mir immer in Erinnerung bleiben. Die Schwaben waren sich nun völlig im Klaren, dass die Missongs Volksfeinde waren. Sie ließen ihrer Verachtung durch eindeutige Zurufe freien Lauf, während die Serben sich vor meinem gedemütigten Vater und uns Kindern, die wir ihm weinend nachliefen, tief verbeugten. Die „schwäbische Herrschaft“ dauerte, Gott sei Dank, nicht sehr lange, weil die Ungarn bald ins Dorf einrückten. Die willkürliche Behandlung der Serben, die plötzlich ziemlich rechtlos waren und deren Besitz und Ehre nicht mehr geachtet wurden, fand, zumindest vorläufig, ein erträgliches Ende. In den von den Deutschen besetzten Gebieten Jugoslawiens, vor allem natürlich in Kroatien und in Slawonien, wurde allerdings sofort mit der physischen Vernichtung oder mit der Vertreibung der serbischen Bevölkerung begonnen. Wir waren dennoch oft Zeugen der Verbrechen, die damals an den Serben begangen wurden. Viele Tage hindurch zogen nämlich die vertriebenen Serben mit den wenigen Habseligkeiten, die sie auf ihre Wägelchen laden konnten, auf der langen Hauptstraße unseres Dorfes in Richtung Novi Sad und Innerserbien. Immer wenn ich im Fernsehen die Bilder von den unglücklichen Menschen sah, die im letzten Krieg in Jugoslawien aus ihren Heimatdörfern vertrieben wurden, muss ich an Futog im Jahre 1941 denken. Ich hatte das alles schon als Kind gesehen. Meine zwei Schwestern und ich standen lange Zeit in der Menge der 1-2/2010 61