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4. Batschka und Südbaranja Die etwa 16.000 Juden, die in der im Frühjahr 1941 von Ungarn annektierten Batschka und Südbaranja lebten, waren zeitlich betrachtet die letzten jugoslawischen Juden, die vom Holocaust erfasst wurden. Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Ungarn im März 1944 waren sie — wie die ungarischen Juden — vielen erniedrigenden Maßnahmen, Zwangsarbeitseinsätzen und zeitweiliger Internierung in verschiedenen Lagern in der Batschka ausgesetzt, blieben aber von der Massenvernichtung verschont. Eine Ausnahme bildete die „Säuberungsaktion“ ungarischer Truppen im Januar 1942. Nach Überfällen lokaler Partisaneneinheiten umstellten am 4. Jänner 1942 ungarische Einheiten zahlreiche Orte rund um Novi Sad, verhafteten die dort lebenden Serben und Juden und ermordeten 2.260 Menschen, darunter 323 Juden. Bei einer weiteren Razzia von 21. — 23. Jänner wurden in Novi Sad und anderen Orten weitere 1.200 Juden und mehrere tausend Serben ermordet. Doch die planmäßige Vernichtung begann erst mit der Besetzung Ungarns durch die Nationalsozialisten im Frühjahr 1944. Im April 1944 wurden die Juden der Batschka und Südbaranja zuerst in drei ungarische Internierungslager verbracht und Ende Juni nach Auschwitz deportiert. Von den circa 16.000 Juden, die 1941 in den von Ungarn annektierten Gebieten gelebt hatten, wurden etwa 14.800 ermordet, etwa 13.300 von ihnen in Auschwitz. Bilanz: Von den über 80.000 Juden, die vor dem April 1941 in Jugoslawien gelebt hatten, fielen 55.000 bis 60.000 jugoslawische Juden und etwa 4.000 ausländische Juden dem Holocaust zum Opfer. 32.000 bis 37.000 wurden auf dem ehemaligen jugoslawischen Gebiet ermordet, etwa 28.000 deportiert und in den Vernichtungslagern in Polen getötet. Die Ermordung der jugoslawischen Juden vollzog sich in einem Zeitraum von drei Jahren. Sie begann mit der Tötung der ersten Juden durch die Ustascha im KZ Drnje im Mai 1941 und endete mit dem letzten Eisenbahnwaggon, der Ende Juni 1944 mit Juden aus der Batschka in Auschwitz eintraf. Obwohl durch die Aufteilung Jugoslawiens die jüdische Bevölkerung in fünf verschiedene Herrschaftsbereiche aufgesplittert worden war, war das Endresultat letztlich dasselbe. In Serbien verrichteten die Nationalsozialisten die Judenvernichtung selbständig vor Ort, indem die Männer von der Wehrmacht erschossen und die Frauen und Kinder in einem Gaswagen erstickt wurden. Im kroatischen Ustascha-Staat teilten Ustascha und Nationalsozialisten das Vernichtungswerk untereinander auf: Juden, die nicht bis zum Sommer 1942 von der Ustascha in den kroatischen Konzentrationslagern ermordet worden waren, wurden an die Nationalsozialisten ausgeliefert und nach Auschwitz deportiert. Es war einzig den italienischen Besatzern zu verdanken, dass tausenden Juden in Kroatien die Flucht gelang und sie den Holocaust überlebten. Bulgarien wird in der Literatur oftmals für seinen fehlenden Antisemitismus gerühmt — doch davon bekamen die Juden im bulgarisch annektierten Mazedonien nichts zu spüren. Als die Nationalsozialisten auf die Deportation der dortigen Juden drängten, verabschiedete der bulgarische Ministerrat skrupellos ein Dekret, auf Grund dessen im März 1943 über 7.000 mazedonische Juden in die Vergasungsfabrik Treblinka deportiert und ermordet wurden. Bis zum Frühjahr 1944 schien es, als ob die Juden aus den ungarisch besetzten Gebieten Batschka und der Südbaranja als einzige Gruppe dem Holocaust an den jugoslawischen Juden entgehen würden. Doch dann besetzten die Nationalsozialisten Ungarn, und bereits im Juni 1944 waren auch die letzten 13.300 Juden aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Auschwitz transportiert und ermordet worden. Fast 90 Prozent der jugoslawischen Juden fielen dem Holocaust zum Opfer. Damit weist Jugoslawien die prozentuell höchste Mortalitätsrate auf. In keinem anderen Land Europas ist es den Nationalsozialisten und ihre Verbündeten gelungen, den Holocaust mit einer derartigen Efhizienz umzusetzen. Literatur Gabriele Anderl, Walter Manoschek: Gescheiterte Flucht. Der jüdische „Kladovo-Iransport“ auf dem Weg nach Palästina 1939-42. Wien ?2001. Israel Gutman (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Bd. II. München, Zürich 1993. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Berlin 1982. Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. In: Wolfgang Benz (Hg.): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. München 1991. Peter Longerich: Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung. München, Zürich 1998. Walter Manoschek: Die Vernichtung der Juden in Serbien. In: Ulrich Herbert (Hg.): Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 — 1945. Neue Forschungen und Kontroversen. Frankfurt/M. 1998. Walter Manoschek: „Serbien ist judenfrei“. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42. München ?1995. (Schriftenreihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Bd. 38). Menachem Shelach: Sajmiste - An Extermination Camp in Serbia. In: Holocaust and Genocide Studies 2 (1987), 243-260. Holm Sundhaussen: Jugoslawien. In: Wolfgang Benz (Hg.): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. München 1991. Anmerkungen 1 Militärhistorisches Archiv in Belgrad, German Archive, 50-4-4. 2 Das weitere Schicksal der Zigeuner in Serbien verlief nur teilweise parallel mit jenem der Juden. So wurden im Juli 1941 die seit 1830 sesshaften Zigeuner von den Bestimmungen ausgenommen; die Frauen und Kinder wurden vor der Vergasungsaktion aus dem Lager entlassen. Der entscheidende Grund, warum die Zigeuner nur partiell vernichtet wurden, lag in der Unmöglichkeit, sie nach ihrer Religionszugehörigkeit eindeutig zu definieren. Die im Herbst 1941 in den „Geisellagern“ in Belgrad und Sabac internierten Zigeuner wurden ebenso wie die Juden exekutiert. 3 PA-AA, Inland IIg, Telegramm Veesenmayers und Benzlers an das Auswärtige Amt, 8.9.1941. 4 NG-Dokument 3354, Luther an Benzler, 16.9.1941. 5 BA-MA, RH 24-18/213, fernmündlicher Befehl Böhmes an Quartiermeisterabteilung, 4.10.1941. 6 BA-MA, RH 26-104/14, Befehl Böhmes, 10.10.1941. 7 PA-AA, Inland IIg, Aufzeichnungen Rademachers über das Ergebnis seiner Dienstreise nach Belgrad, 7.11.1941. 8 NOKW-Dokument 1486, 29.8.1942. 9 Bericht Helms vom 18.4.1944, zit. nach Sundhaussen, S. 324 1-2/2010 67