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sie in Deutschland, der Schweiz und Österreich gastiert, sollten folgen. Ihre „aufleuchtende Erscheinung“ inspiriert Maler und Fotografen zu Porträts, so Christian Rohlfs, der einen Tatjana-Zyklus komponiert: Sie ist eine Tänzerin, die Bilder malt. In die Luft, aus Händeweiß, Traumgrün, Blutrot und Vogelblau malt. Sie ist etwas Besonderes ... eine, die mit traumhaften und hei‚en Gebärden Pantomimen hinzaubert. So wie sie Motiv für die Künstler ist, so lässt sie sich von Kunstwerken ergreifen: „Da wächst plötzlich eine Barlachfigur empor, stark, bedeutend ist die kleinste Bewegung.“ 1924 lernt sie den Maler Gert Heinrich Wollheim kennen, der sie mehrfach in Bildern festhält, trennt sich von ihrem Ehemann und geht nach Berlin. Dort erzielt sie um 1925 dank ihrer malerischen und plastischen Darbietungen, ihrer persönlichen Ausstrahlung, ihres exotischen Antlitzes und ihrer zum Teil selbst entworfenen Kostüme von auserlesener Schönheit großen Erfolg. Um 1929 gibt sie eine höchst erfolgreiche, von der Presse gefeierte Matinée in den Wiener Kammerspielen: Diese Tatjana Barbakoff, blütenzart und barbarisch, Pfirsischblüte und böse Katze, ... diese Frau ist echt und sie ist möglicherweise ein Genie. Mit dem Ermächtigungsgesetz, das der nationalsozialistischen Regierung unter Hitler uneingeschränkte Vollmacht erteilte, fand ihre tänzerische Karriere in Berlin ein jähes Ende. Ende April, vielleicht auch Anfang Mai 1933 sieht sie sich zur Emigration gezwungen. Mit dem Zug fährt sie von Berlin nach Paris, die Koffer „vollgepackt mit all ihren Tanzkostümen“. Dorthin flieht auch über Saarbrücken ihr Lebensgefährte Gert H. Wollheim. In Paris lernt sie den Fotografen Willy Maywald kennen, dessen Atelier zum Treffpunkt vieler Emigranten wird und dessen Fotos Ateliers von Künstlern, Strassenszenen oder Cafes festhalten. Über 65 Porträtaufnahmen macht er von ihr, die sie in verschiedenen Tanzstellungen zeigen. Schwierig ist es für sie wie für die anderen, Verdienstmöglichkeiten ohne Arbeitserlaubnis ausfindig zu machen. Sie erteilt Gymnastik- und Tanzstunden, tanzt bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und gelegentlich in der Acad&mie von Raymond Duncan, wo ihr von Posen und Mienenspiel geprägter Tanz „eine große Ergriffenheit“ zeitigt. Gegen die nationalsozialistische Kulturpolitik der „entarteten Kunst“ erhebt sich unter den emigrierten Künstlern lauter Protest, der 1938 in einer Ausstellung „Freie Deutsche Kunst“ mündet, in der auch Wollheims Bild „Der Clown und die Zirkusreiterin“ — er Wollheim, sie Barbakoff — zu sehen ist, das ,im Hintergrund ... die Not der Emigranten und Zeichen eines nahenden Krieges“ andeutet. Der Überfall Deutschlands auf Polen 1939 und men die darauf folgende Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland führen zu einer Internierungswelle, der auch Tatjana Barbakoff zum Opfer fällt. Sie wird in Gurs im Ilot I interniert, in dem auch ten wird, die Jahre spater schreibt: Ich kann mich ... erinnern, dass ich bei jedem Gespräch mit ihr das Gefühl hatte, „diese Frau sollte nicht hier sein, sie ist viel zu sensitiv, es geht alles so tief bei ihr“. Im Juli 1940 kann sie das Lager verlassen und für kurze Zeit mit Wollheim zusammen leben. Die Festnahme Wollheims und seine Internierung ins Lager Septfonds veranlassen sie unter ihrem Namen Cilly Waldmann Bittbriefe um ein Affidavit fiir Wollheim in die USA zu schicken, wissend, dass sie selbst nie eines erhalten wird, da sie mit Wollheim nicht verheiratet ist. Im August 1942 gelingt ihm die Flucht und im September trifft er sie in der Nahe von Lourdes wieder. Dort werden sie von einer Bäuerin namens Maria Morlaas versteckt. Trotz Einwänden von Wollheim flieht Tatjana Barbakoff mit Freundinnen an die unter italienischer Verwaltung stehende Cöte d’Azur in der trügerischen Hoffnung auf Sicherheit. Hier trifft sie Willy Maywald, der das letzte von ihr erhaltene Porträtfoto macht, das sie mit geschlossenen Augen und mit zur Seite geneigtem Kopf unter Palmen zeigt. Nach der Landung der Alliierten in Sizizilien und der Waffenniederlegung der Italiener übernehmen die Deutschen das Gebiet und führen brutale Razzien durch. Tatjana Barbakoff wird verhaftet, ins Lager Drancy gebracht und im Februar 1944 nach Auschwitz deportiert wird. Am 6. Februar 1944 wird sie mit Giftgas ermordet. Gert H. Wollheim, der das Grauen überlebt, macht sich Vorwürfe und versucht mit dem 1962 entstandenen Bild 6 Millionen den Tod Tatjana Barbakoffs zu bewältigen. In Erinnerung an die menschliche Größe Tatjana Barbakoffs und als Zeichen wider das Vergessen stiftete Julia Tardy-Marcus den Tatiana Barbakoff Preis. Wer weiteres über diese vergessene Tänzerin erfahren will, greife zu dem vorzüglichen Katalog, den Günter Goebbels sorgfältig gestaltet und unter mühevoller Arbeit zusammengetragen hat. Tatjana Barbakoff. Eine vergessene Tänzerin in Bildern und Dokumenten. Text und Katalog durch den Ausstellungskurator Günter Goebbels. Berlin 2009. 98 S. Euro 15,Die Ausstellung wurde vom „Verborgenen Museum. Dokumentation der Kunst von Frauen“ in Berlin im Juni 2010 gezeigt. 1-2/2010 73