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der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert. Caneppele ruft uns aber vor allem all die technischen Geräte, die mittels statischer oder bewegter Bilder die Betrachter aus der Realität fliehen ließen, die Hysterie um Weltuntergangsprophezeiungen und prognostizierte Kometeneinschläge, die Werbetricks der die Motive von Briefmarken und Postkarten Geschäftemacher, in Erinnerung. Für Schulz waren diese allesamt das Bewusstsein manipulierende und die Wirklichkeit mystifizierende BildText-Gefüge, die seinem Gestaltungssinn entgegenkommen. In seinem Essay „Das Mythisieren der Wirklichkeit“, in dem er für eine Sprache der Dichtung eintritt, die sich aus Kurzschlüssen des Sinns zwischen den Worten und einer „jähe(n) Regeneration der ursprünglichen Mythen“ konfiguriert, heißt es: „Der unermüdliche menschliche Geist besteht im Glossieren des Lebens unter Zuhilfenahme der Mythen und in der Versinnlichung der Wirklichkeit.“ In den uns erhaltenen Erzählungen (nicht nur viele seiner Briefe sind mit den zur Ausrottung verurteilen Empfängern verschollen, sondern auch andere Prosastücke wie die einzige auf Deutsch geschriebene Novelle „Die Heimkehr“), vermag er mittels stimulierender Bildsequenzen die Phantasie des Lesers anzuregen. Caneppele tituliert ihn gleich zu Beginn seines Buches als einen Alchimisten, der auf seine höchst eigenen Ingredienzien zurückgreift, um daraus Welten entstehen zu lassen, die den Leser bis heute faszinieren. Dem Schriftsteller Schulz war kein Ding zu banal, als dass er es nicht als Baustein zum Funkeln gebracht hätte: Gerade im Alltäglichen und Unbeachteten steckt manchmal die stärkste Energie, mit der ein Dichter seiSchulz lässt sich gerne über die Schulter blicken. ne Bilder aufzuladen versteht. In seinen Erzählungen lesend, hat man die eine oder andere Anregung vor sich: „Zauberschatullen, Briefmarken aus längst untergegangenen Ländern, chinesische Abziehbilder, Indigo, Kolophonium aus Malabar, die Eier exotischer Insekten, Papageien und Pfefferfresser, lebende Salamander und Basilisken, Alraunenwurzeln, Nürnberger Mechanismen, Homunculi in Blumentöpfen, Mikroskope und Fernrohre, doch vor allem seltene und besondere Bücher, alte Folianten mit wundersamen Stichen und betörenden Geschichten.“ Ein ganzes Kapitel widmet Caneppele dem „Stern der habsburgischen Werbe80 _ ZWISCHENWELT welt“ Anna Csillag, die mit ihrem mantelgleich bis zum Boden reichendem Haupthaar für ein Wundermittel warb, das die Haare wieder wachsen lassen sollte. In einer zeitgenössischen Werbeanzeige heißt es: „Ich, Anna Csillag, mit meinem 185 Ctm langen Riesen-Lorely-Haar, habe solches in Folge 1l4monatl. Gebrauchs meiner selbsterfundenen Pomade erhalten. Dieselbe ist als das einzige gegen das Ausfallen der Haare, zur Förderung des Wachstums derselben, zur Stärkung des Haarbodens anerkannt worden ... Postversand: täglich bei Voreinsendung des Betrages ... Anna Csillag.“ Caneppele weist nicht nur den Einfluss dieser Werbung auf einen Text von Schulz nach, sondern auch, dass Hitler aufgrund dieser äußerst erfolgreichen Werbung die Macht der Propaganda erkannt und sein Wirken danach ausgerichtet habe. Der Autor zitiert Josef Greiner, einen Wiener Bekannten von Hitler, der in seinem 1947 erschienenen Buch „Das Ende des Hitler-Mythos“ ausführlich die Überlegungen Hitlers zu dieser Propaganda beschrieb: „Das nennt man Reklame machen! Propaganda, Propaganda, so lange, bis die Leute glauben, dass dieser Dreck helfen wird... ganda, Propaganda, so lange bis daraus ein PropaGlaube wird und man nicht mehr weiß, was Einbildung und was Wirklichkeit ist (...) Propaganda“, spintisierte er weiter, „was wirst du erst vermögen, wenn du im Dienste einer Idee stehst, um die Menschen glücklich zu machen!“ — So wie viele andere Objekte und Figuren der Werbeinserate des 19. und frühen 20. Jahrhunderts „verwertet“ Schulz auch diese Frauenfigur, und zwar in der Erzählung „Das Buch“. Den größten Einfluss auf sein Schreiben hatte jedoch die Kinematographie, die Kunst der bewegten Bilder, mit allem was damals dazugehörte. In Drohobycz gab es gleich mehrere Kinosäle, und Schulz war ein fleißiger Besucher dieser Orte, an denen die Ereignisse der Welt und allerlei künstlerisch meist nicht besonders bedeutende Kurzfilme im dunklen Kinosaal auf die weiße Leinwand projiziert wurden. Schulz literarisiert dieses faszinierende Medium, er kombiniert, collagiert diese bildträchtigen Erfahrungen und schließt sie kurz: Im Text „Das Sanatorium zur Todesanzeige“ bekommt sein porte-parole Jözef statt des bestellten pornographischen Buches ein riesiges Fernrohr, das sich auf magische Weise in ein Automobil mit großen Schweinwerfern verwandelt. Durch diese Transformation eines optischen Gerätes in einen sich selbst bewegenden Mechanismus erschließt er sich eine andere Wahrnehmung, den beweglichen Blick. In der Erzählung „Die Julinacht“ beschreibt er, wie sein Alter Ego aus dem Kino kommt, und prägt dabei, so Caneppele, das „Gleichnis Zug-Film-Finsternis, um seine Republik der Träume zu beschreiben“. Er vergleicht die Nächte seiner Kinobesuche mit einer Bahnfahrt, die ihm ein „unerschöpfliches Fass an Einfällen, Delirien, Phantasien“ bringt. Es genügt ein Augenblick „zum Wechsel des Bühnenbildes, zur Beseitigung der gewaltigen Apparatur, zur Liquidation der großen Impression der Nacht mit ihrem ganzen dunklen, phantastischen Pomp“. Caneppele bezeichnet Schulz liebevoll als „Prophet und Liebhaber des kinematischen Blickes“ und vergleicht ihn mit dem Rezitator in den Anfängen des Films. Dieser setzte eine simulierte Wirklichkeit in Szene, einen Vorgang, der auch in den Schriften von Schulz zu finden ist. Schulz geht jedoch weiter: „Er verstellt und schmuggelt das, was er in Bildern sieht, in die geschriebene Sprache. Er entziffert die Landschaften, die Bilder, die Zeichen und die Illustrationen der Werbung, er übersetzt sie alle in geordnete Sätze, gestützt von Grammatik, Syntax und Rechtschreibung, verwandelt aber gleichzeitig jedes Wort durch einen ununterbrochenen Spiegelungsprozess in ein Ideogramm.“ Schulz schenkt den Werbeinseraten, Plakaten und sonstigen mehr oder weniger trivialen Bildern seine Stimme. „Er ist also“, so Caneppele, „der letzte tätige Rezitator des großen galizischen Spektakels.“ — Caneppeles Buch ist nicht nur fiir Schulz-Rezipienten eine Bereicherung, sondern bietet auch fiir den an der Alltagskultur interessierten Fachmann wie Laien eine Fiille von Bildmaterial und Informationen. Richard Wall Paolo Caneppele: Die Republik der Träume. Bruno Schulz und seine Bilderwelt. Graz: Clio 2009. 186 S. Euro 18,