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porteure und Aufpasser waren Bewohner
von Rechnitz und der Nachbardörfer, die
zum Volkssturm abkommandiert waren,
möglicherweise auch SA-Angehörige. Aus
allen Aussagen geht hervor, dass das „Kom¬
mando“ unter Leitung der SS gestanden
sei. Niemand will aber auch nur einen der
SS-ler gekannt haben, die nach Mitter¬
nacht die Mordaktion leiteten. Die minu¬
tiöse Rekonstruktion dieser Stunden: Wer
wann wohin wie viele Lastwagenfahrten
unternommen hatte, wer wann wo Wache
gestanden und wer wann wo die Leichen
vergraben hatte — und die Gegeniiberstel¬
lung der widerspriichlichen ,,Zeugenaussa¬
gen“ bringt die Historiker zu dem Schluss,
dass es viel mehr als 180 Menschen gewesen
sein mussten, die in einer alten Scheune,
dem „Kreuzstadel“, ab 1 Uhr nachts mit
Genickschüssen hingerichtet wurden. Drei
Stunden dauerte das Massaker an etwa 300
jüdischen Zwangsarbeitern. Die Gräben,
in denen dann die Leichen verscharrt wur¬
den, waren möglicherweise schon früher im
Zuge des Verteidigungssystems des Ostwalls
vom Volkssturm, das heißt von Bewohnern
Rechnitz‘ und der umliegenden Dörfer, aus¬
gehoben worden. Umso fraglicher, dass sich
schon kurze Zeit danach, als im Sommer
1945 das Verfahren aufgenommen wurde,
niemand mehr in Rechnitz an deren Lage
erinnern konnte. Dieses Schweigen und
Nicht-Erinnern-Wollen dauert nun seit 65

Jahren an.

Wissenschaftlich analysiert und gewürdigt
werden auch die neueren Bemühungen um
das Gedenken des Massenmordes und die
Suche nach den Massengräbern etwa durch
die Vereine R.E.F.U.G.1.U.S., Grenzenlos
und das Unabhängige Antifaschistische

Personenkomitee oder die Filmemacher
Eduard Erne und Margareta Heinrich mit
ihrem Dokumentarfilm „Totschweigen“ bis
hin zu den zahlreichen Künstlerinitiativen
sowie den Störversuchen von rechter Seite.

Deutlich treten die Autoren dieses reichen
Dokumenten-Bandes auch der von den
Medien marktschreierisch transportierten
Version des Massenmordes als einer „Mit¬
ternachtseinlage“ auf Schloss Batthyäny
entgegen. Gerade indem sie Täterideolo¬
gie und Befehlskette so weit wie möglich
rekonstruieren, stellen sie das Rechnitzer
Massaker in den Rahmen der massenhaf¬
ten Endphasenverbrechen und widerspre¬
chen dem medientauglichen Hirngespinst
einer zufälligen, perversen Belustigung, vom
Rausch zum Blutrausch.

Die Ergebnisse dieser Studien ersparen es
Rechnitz nicht, dass es noch immer als Ort
der kollektiven Verdrängung stigmatisiert
wird und als pars pro toto für den Umgang
Österreichs mit dem Nationalsozialismus
dasteht: Schweigen und Verdrängen, so wie
es auch Elfriede Jelinek in ihrem dem Band
vorangestellten wortmächtigen Essay „Im
Zweifelsfalle“ formuliert.

PS.: Als ich das Buch Anfang 2010 las, war
gerade die Debatte um das geplante Asyl¬
Erstaufnahme-Zentrum in Eberau_ los¬
gebrochen. Eberau ist eine von Rechnitz‘
Nachbargemeinden. Eine Innenministerin
mit Sinn für Zeitgeschichte oder ein Lapsus
aus Ignoranz?

Veronika Seyr

Walter Manoschek (Hg.): Der Fall Rechnitz. Das
Massaker an Juden im März 1945. Mit einem Text
von Elfriede Jelinek. Wien: Braumüller 2009. 266
S. Euro 24,90

Da oben flackert die alte Stadt,/ samt dem
Sommer vom Feuer verschlungen./ Und in
der Asche liegt der Prophet! mit ausgebrann¬
ter Zunge.

Diese Verse stammen aus Abraham Sutz¬
kevers Gedicht „Straschun-Straße 12“ und
wurden vom heute hochbetagt in Tel Aviv
lebenden jiddischen Dichter am 10. No¬
vember 1943 in den Narodscher Wäldern
geschrieben. Zu diesem Zeitpunkt kämpfte

82 — ZWISCHENWELT

er als Partisan gegen die deutschen Besatzer
— wenige Monate vorher war ihm der Aus¬
bruch aus dem Ghetto von Wilna gelungen,
die Straschun-Straße war eine zentrale Stra¬
ße des Ghettos. Das Ghetto ist vernichtet,
die Menschen in den Gruben von Ponar —
einem zehn Kilometer westlich von Wilna
gelegenen Ort - erschossen, verbrannt. Von
ursprünglich 75.000 jüdischen Einwohnern
werden nur 2.500 den NS-Terror überleben,
darunter Sutzkever und seine Frau Frejde.

Das jüdische Wilna, das einstige „Jerusalem
des Nordens“, existiert nicht mehr.

Noch während seine Frau und er in den
Wäldern ums Überleben und um die Be¬
freiung kämpfen, gelangen einige seiner
Gedichte nach Moskau. Dort beeindru¬
cken und erschüttern sie Ilja Ehrenburg
und den jiddischen Dichter Perez Markisch.
Das Ehepaar Sutzkever wird aus den oben
erwähnten Wäldern mit einem kleinen Mi¬
litärflugzeug nach Moskau geholt, wo es bei
öffentlichen Veranstaltungen und im Rund¬
funk darüber berichteten, welch unvotstell¬
bare Gräuel und welches Leiden im Ghetto
von Wilna geherrscht haben. In der Folge
lädt Ehrenburg Sutzkever ein, am geplanten
Schwarzbuch, das die Verbrechen der deut¬
schen Besatzer gegen die sowjetische jüdi¬
sche Bevölkerung und deren Kampf sowie
das Leiden dokumentieren soll, mitzuarbei¬
ten. Drei Bände sind geplant, erscheinen
wird nur der erste, die weiteren werden
durch Stalins antisemitische Kampagnen
verhindert. Und auch die Verbreitung des
ersten Bandes wird verboten werden.

Die Erstveröffentlichung des Textes Sutz¬
kevers über das Ghetto von Wilna, den die¬
ser schon 1944 in Moskau geschrieben hat,
erfolgt in einer gekürzten und veränderten
Fassung 1946, ebenfalls in Moskau. Im Jahr
der sowjetischen Ausgabe erscheint in Pa¬
ris der Text unter dem Titel „wilner geto
1941 - 1944“ auf Jiddisch. Dieser bleibt
aber nahezu unbemerkt, denn lediglich 100
Exemplare werden verkauft. In deutscher
Übersetzung erscheint Sutzkevers Bericht in
Auszügen erstmals 1994 im von Arno Lus¬
tiger herausgegebenen „Schwarzbuch. Der
Genozid an den sowjetischen Juden“. Darin
kann man einiges zu den Schwierigkeiten,
die dieses Buchprojekt in der Sowjetunion
zu überwinden hatte, nachlesen. Dass das
Leiden der jüdischen Bevölkerung oder gar
jüdischer Widerstand breit dargestellt wur¬
de, war nicht erwünscht. Über Kollabora¬
tion mit den deutschen Besatzern durfte
nicht berichtet werden, ebenso wenig über
die Rolle der Sowjetunion in Litauen vor
und nach der deutschen Besetzung.

Grundlage für die nun vom Schweizer
Ammann Verlag vorgelegte und von Hu¬
bert Witt hervorragend betreute und ins
Deutsche übersetzte Ausgabe des Berichtes
von Abraham Sutzkever ist die in Paris er¬
schienene. Hoffentlich - und das wäre allzu
berechtigt - erzielt sie eine größere Auflage
als die von 1946.

Sutzkever, 1913 geboren, gehört bereits
in den 1930er Jahren zu den jungen, avant¬