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gardistisch gesinnten jiddischen Schriftstellern in Wilna — 1937 erscheint sein erster Gedichtband „lider“ („Lieder“). Als am 6. September 1941 zwei Stadtteile von Wilna von den deutschen Besatzern abgesperrt werden, ist die erste große Pogrom- und Tötungswelle bereits über die jüdische Bevölkerung hinweggerollt. Während dieser Zeit versteckt sich Sutzkever in einer „Maline“. Dies ist ein Begriff aus der Ganovensprache, der in den Alltagsgebrauch der Verfolgten in Wilna einging und „Versteck“ bedeutet. Sutzkever verbringt sieben Wochen in einem Verschlag auf einem Dachboden, um den „Chapunes“ (Greifern) zu entgehen. Das Blech, von der Julisonne erwärmt, brannte meinen Leib. [...] In der Dämmerung kam meine Frau, die ohne Flicken ausging, um mir unterm Brett hindurch ein Stück Brot zuzustecken. Öffnen wollte ich die Maline nicht, denn jeden Augenblick konnten Chapunes eindringen. Später muss er auf dem Hof des Begräbnisvereins schnell eine Maline finden - ein Sarg wird die Rettung sein. Ich schloss den Deckel über dem Kopf, lag in der stickigen Luft, und so, im Sarg liegend, wob ich mein Gedicht „Ich lieg in einem Sarg“. Dieses Gedicht befindet sich im zweiten Band der Edition und dieser war vom Ammann Verlag ursprünglich nur zur Dokumentation bzw. Ergänzung des Berichtes gedacht. Nun ist daraus ein eigenständiger Gedichtband, „Gesänge vom Meer des Todes“, geworden, der mehr als bloße Begleitlektüre ist und einen Überblick über Sutzkevers reiches Iyrisches Schaffen bietet. Immer wieder — auch in den Jahren nach der Befreiung — kreist Sutzkevers Lyrik meist um Wilna und die Ereignisse im Ghetto. Nüchtern und klar stellt er im Bericht die Ereignisse dar, schreibt wie in einem Tagebuch, scheut aber nicht vor drastischen Bildern zurück. Als die noch am Leben gebliebene jüdische Bevölkerung ins Ghetto getrieben wird, schreibt er darüber: Die Gejagten weinten nicht, das Vor-Getto hatte ihre Tränen ausgebrannt, ihre Gefühle versteint ... und: Sie sahen wie wandelnde Tote aus. Oder später über die verheerenden Zustände im Ghetto: „Der Jammer des Gettos würgte mich wie eine Schlinge“ und „Ich kam zurück in die blutigen Gassen“. Mehrmals wird das Bemühen Sutzkevers deutlich, Menschen dem Vergessen zu entreißen. So erwähnt er immer wieder die Namen von Menschen, zählt sie auf, wie z.B. die Lehrer in den Ghettoschulen, die zusehen müssen, wie die von ihnen zu unterrichtenden Kinder zahlenmäßig immer weniger werden, da sie in die Transporte nach Ponar eingereiht werden. „Die Lehrer strebten danach, den Kindern die Illusion eines normalen Lebens zu schaffen.“ Ob dies möglich war? Ebenso beginnt wieder ein zaghaftes kulturelles Leben im Ghetto, wobei es große Auseinandersetzungen darüber gibt, ob angesichts des Terrors so etwas wie Iheateroder Liederabende moralisch gerechtfertigt werden können. Dem kulturellen Leben im Ghetto von Wilna widmet sich auch ein Aufsatz von Frank Grüner im letzten Jahrbuch des „Instituts Iheresienstädter Initiative“, der dieser Auseinandersetzung — so gut es die Quellenlage zulässt — nachgeht. (Die seit 1994 als Jahrbuch erscheinenden „Iheresienstädter Studien und Dokumente“ sind eine unverzichtbare Edition, die natürlich ihren Schwerpunkt in den Ereignissen in und um das KZ Theresienstadt hat, aber immer wieder darüber hinausgehende Aufsätze zur Publikation bringt.) Im Kulturleben des Ghettos spielt auch Sutzkever eine große Rolle. Er wird in die Leitung der Vereinigung von Literaten und Künstlern im Wilner Ghetto gewählt (auch hier zählt er alle Mitglieder namentlich auf). Eine Bibliothek nimmt ihre Tätigkeit auf. Menschen, die in normalen Zeiten selten ein Buch zur Hand nahmen, kamen jetzt in die Bibliothek. Ein Buch wurde zum Freund, zum Trost in all dem Elend. Beteiligt ist Sutzkever auch an der Rettung wertvoller jiddischer Handschriften und Manuskripte (z.B. von Scholem Alejchem oder Herzels Tagebuch) sowie von Zeichnungen Marc Chagalls, die an verschiedenen Stellen des Ghettos versteckt, vergraben oder eingemauert werden. Genau beschreibt Sutzkever auch die unterirdische Stadt, die Keller, häufig miteinander verbunden, und das Kanalsystem Wilnas, in dem sich immer mehr Juden verstecken. (Auch sein Ausbruch aus dem Ghetto und der seiner Frau wird über die Kanäle erfolgen.) Sehr gut kenne ich ihre Atmosphäre, den wilden Schrecken der zusammengekrampften Körper. [...] Ich werde nie den Augenblick vergessen, als in der Maline die Streichhölzer nicht mehr aufflammten, weil die Luft schon zu wenig Sauerstoff enthielt. In Sutzkevers Bericht ist auch der erste Aufruf der FPO (Vereinigte Partisanenorganisation) des Ghettos enthalten. Er selbst ist daran beteiligt, und die Partisanen haben einen allgemeinen Aufstand zum Ziel. Das widerspricht dem Vorgehen des von den NS-Besatzern eingesetzten „Judenältesten“ Jakob Gens, der denkt, dass er durch Befolgung der Weisungen der Deutschen und durch die Arbeitskraft der verbliebenen Ghettobewohner zumindest diese retten kann. Sutzkever urteilt über ihn: Gens begriff nicht, daß er nur ein Werkzeug in den Händen der Gestapo war, und daß er, wenn er den Juden helfen wollte, in Wahrheit den Deutschen und ihren finsteren Taten half: Zum Aufstand wird es nie kommen - zu perfide geht die SS vor. So muss der Kommandant der Partisanenorganisation Itzig Witenberg unter Androhung schwerster Konsequenzen bei Nichtauslieferung der Gestapo übergeben werden. Nach schwerer Folter wird er ermordet. Franz Murer, „Gebietskommissar von Wilna“ und somit der Kommandant und „Schlächter des Ghettos“, wird im Bericht Sutzkevers mehrmals wegen seines ungehemmt ausgelebten Sadismus erwähnt. Am liebsten dürfte Murer am Ghettotor — obwohl er als Kommandant dort nicht Dienst machen hatte miissen — jiidische Frauen misshandelt, ausgepeitscht haben. Murer wird zwar nach Kriegsende an die Sowjetunion — Wilna liegt damals auf sowjetischem Gebiet — ausgeliefert, doch gelingt es ihm mit Abschluss des Staatsvertrages 1955 nach Österreich zurückzukehren und unbehelligt in der Steiermark zu leben. Nachdem seine Identität durch Simon Wiesenthal 1962 aufgedeckt wird, kommt es 1963 in Graz zum Prozess gegen ihn. Dieses Verfahren endet mit einem skandalösen Freispruch, der noch im Gerichtssaal von den anwesenden „Anhägern“ Murers heftig bejubelt wird (vorher werden allerdings noch die „jüdischen“ Zeugen verhöhnt). Die Floristen in der Umgebung des Landesgerichtes sollen leergekauft gewesen sein. Murer wird bzw. bleibt problemlos ÖVP-Mitglied und Obmann der Bezirksbauernkammer Liezen. Einer seiner Söhne, der ehemalige Nationalratsabgeordnete der FPÖ, Gerulf Murer, hat übrigens 1989 angekündigt, dass neutrale [!] Historiker aus Deutschland mit einem von ihnen verfassten Buch die Unschuld seines Vaters beweisen würden. Dieses Buch ist jedoch nie erschienen! Erwähnt wird in Sutzkevers Bericht auch ein anderer Österreicher, der aus Wien stammende Feldwebel der deutschen Wehrmacht Anton Schmid, ein 1967 — also wenige Jahre nach dem Freispruch Murers — in 1-2/2010 83