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Yad Vashem geehrter „Gerechter unter den Völkern“. Er stellte etwa 90 Arbeitsbescheinigungen, sogenannte „Gelbe Scheine“, für jüdische Arbeitskräfte aus, obwohl ihm nur 15 Arbeitskräfte zustanden, um diese Menschen zu retten. Außerdem erteilte er Marschbefehle nach Weißrussland, weil dort die jüdische Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt noch nicht so existentiell mit dem Tod bedroht war wie in Wilna. Sutzkever bezieht sich allerdings auf Schmids Rolle bei der Herstellung einer Verbindung zwischen den Partisanenorganisationen von Wilna und Warschau. Schmid wurde vermutlich denunziert, danach vor ein Militärgericht gestellt und am 13. April 1942 erschossen. Warum bei Sutzkever Anton Schmid allerdings als Tscheche bezeichnet wird, bleibt unklar. Sutzkever betont auch die Erfolge der jüdischen Partisanen bzw. Partisaninnen und die Rache, die sie üben wollen. Nicht zufällig lautet die Bezeichnung einer dieser Einheiten „Rächer“. „Bei der dritten [Bahnkatastrophe], auf der Bahnlinie Wilne — Oran, wurden 200 Hitlersoldaten getötet.“ Sprengstoffanschläge auf Eisenbahnzüge und -briicken, Trafostationen, ein Terpentinwerk usw. werden von ihm beschrieben. Auch hier ist es Sutzkever wichtig, die Namen vieler jüdischer Kämpferinnen und Kämpfer zu nennen und ihre Taten der Nachwelt zu erhalten. Besonders erschütternd ist der letzte Teil des Berichts, übertitelt mit den Worten „Auf der heißen Asche“. Hier werden die Vorgänge in und um die Erschießungsgruben von Ponar beschrieben bzw. gibt Sutzkever Berichte von Überlebenden und Zeugen wieder, die den Leser/die Leserin schaudern lassen. Kurz erfasst auch Sutzkever das Grauen: Wie kann ich hier so ruhig meine Erlebnisse notieren, wie kann ich überhaupt darüber „Und keiner war dabei“ Dieses Buch ist ein „Klassiker“ jener Literatur, die sich gegen Ende der 1980er Jahre die Aufarbeitung der österreichischen NS-Vergangenheit zum Ziel setzte. Dem Tuscheln, Vergessenwollen oder Schönreden der jahrzehntelangen Schweigen, unentschuldbaren Pöbelexzesse seitens der betroffenen Generation folgte nun, im allerdings nicht ganz glücklichen Kontext der Anti-Waldheim-Mobilisierung, der 84 ZWISCHENWELT schreiben, was ich dort [in Ponar, nach der Befreiung] gesehen habe, wenn ich doch selbst nicht imstande bin, es zu begreifen. In Ponar liegen meine Mutter, mein Kind, meine Freunde [...] Sutzkever, der am 27. Februar 1946 als Zeuge im Niirnberger Kriegsverbrecherprozess tiber die Verfolgung der Juden in Wilna aussagt, muss dort ausführlich über die Ermordung seines Sohnes sprechen. Dieses traumatische Erlebnis kommt aus verständlichen, nachvollziehbaren Gründen im vorliegenden Bericht nur sehr eingeschränkt vor. Im Gedichtband findet sich jedoch das herzzerreißende Gedicht „An mein Kind“, das von Sutzkever am 18. Jänner 1943 im Ghetto geschrieben wurde. Und natürlich findet man beim Lesen des Gedichtbandes immer wieder Ereignisse lyrisch beschrieben, die aus dem Bericht Sutzkevers bekannt sind. Aber — wie gesagt — diese Texte sind mehr als eine Parallellektüre, sie nehmen den Leser/die Leserin gefangen, gefangen in einem Wirbel von schrecklichen Ereignissen und berauschender Sprache. Wie gelingt es einem Dichter, wie kann es dem Dichter gelingen, diese Hölle in lyrische Worte zu fassen? Wie ist dies einem Menschen möglich? Nun — Sutzkever jedenfalls gelingt es! Der halbe Mond/ geht auf wie eine Harfe,/ und jemand spielt auf ihr! mit kalten blutigen Fingern. Lesen Sie — beide Bände! Martin Krist Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941 — 1944/ Gesänge vom Meer des Todes. Aus dem Jiddischen von Hubert Witt. 2 Bände in Schuber. Zürich: Ammann Verlag 2009. 272 u. 192 S. Euro 43,20 Theresienstädter Studien und Dokumente 2008. Hg. v. Jaroslava Milotovd und Anna Hajkovd. Prag: Sefer 2009. 336 S. Euro 15,aufdeckende folgenden. Gegenschlag der darauf Was in Wien in den Märztagen nach dem Abend des 11.3.1938 geschah, war zweifellos ein Pandämonium menschlicher Gemeinheit: Plünderungen, Raub, Demütigungen seitens eines entfesselten antisemitischen Mobs und Denunziantentum, trieben zahlreiche jüdische Bürger der Stadt in die Verzweilflung und nicht selten in den Selbstmord. Die sich langsam etablierende NS-Verwaltung hatte geradezu Mühe, diese spontanen Exzesse der Gewalt und des ungeregelten Vermögensentzuges in bürokratisch geordnete Schranken zu verweisen. In der konkreten Dokumentation dessen, was damals vor sich ging und wie es nach 1945 unter den Teppich gekehrt wurde, liegen die Stärken des Buchs von Safrian und Witek. Amtliche Dokumente ergänzen die Berichte von unmittelbar Betroffenen und von Zeitzeugen wie Carl Zuckmayer, die schmierige Gier von Ariseuren (und „Ariseusen“‘) kommt ebenso zu Wort wie die skandalöse Art, wie die Ausschreitungen nach 1945 selbst von Gerichten verharmlost wurden. Insoweit ist das ein Buch, das in keiner Bibliothek, die sich mit NS-Fragen beschäftigt, fehlen sollte. Was die wissenschaftlichen Qualitäten des Werkes betrifft, sind allerdings Vorbehalte anzumelden. Die Frage, wie konnte es zu solchen Exzessen kommen, wird beispielsweise nicht profund erörtert, sondern implizit mit jener Art von moralisierender Österreicherschelte beantwortet, die nicht unbedingt das glücklichste intellektuelle Erbe der Zeit der Erstpublikation des Buches darstellt. Es geht nicht darum, den Terror der März- und Apriltage 1938 zu verharmlosen. Will man aber verstehen, was da vor sich ging, müsste zum Beispiel schon auch auf die hysterisierte Stimmung und konträre Massenmobilisierung vor Schuschniggs plötzlicher Kehrtwendung in Sachen Volksabstimmung hingewiesen werden, und im Zusammenhang auch darauf, dass demütigende „Reibeaktionen“ zur Entfernung unerwünschter politischer Slogans schon zwischen 1934 und 1938 unter dem Austrofaschismus (und zwar bevorzugt gegenüber illegalen Nazis) üblich waren. Auch auf die tief eingewurzelte antisemitische Propaganda von Seiten des politischen Katholizismus wäre näher einzugehen. Die implizite Denunziation der Österreicher und speziell der Wiener als „Volk der Täter“, wobei nachher dann „keiner dabei“ gewesen sein wollte, etabliert dagegen ein neues Nationalitätenklischee, das, wie sich gezeigt hat, weder intellektuell befriedigen kann noch politisch viel Gutes stiftet. Robert Schediwy Hans Safrian, Hans Witek: Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938. Wien: Picus Verlag 2009.