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war zwar oft aufbrausend in Diskussionen . aber aggressiv war er nicht und in seinem innersten Wesen eigentlich empfindsam und sanft.“ Akzeptiert man die etwas krude Definition, kann man entgegenhalten, dass Parteichefs welcher Partei auch immer per se schon herrschsüchtig sind, zumindest ein großes Bedürfnis nach Macht haben. Entscheidender als das Potenzial an Herrschsucht aber war ein Potenzial an geradezu hündischer Unterwerfung. Und was die politischen Gegner betrifft, erfolgte die Jagd auf Trotzkisten im Nachkriegsösterreich mit Wissen und Zustimmung Koplenigs. Außerdem lebte Koplenig von 1939 bis 1945 als Komintern-Mitarbeiter und Parteivorsitzender der Exil-KPÖ mit seiner Familie im legendären Hotel Lux in Moskau in einem durchaus privilegierten Status. So jemand soll kein Stalinist gewesen sein? Und wie bezeichnet man jemanden, der 1949 als einziger Westeuropäer zu Stalins 70. Geburtstag eingeladen war, wie Wolkogonow in seiner Stalinbiographie schreibt? Markstein betont, dass sich Koplenig nachgewiesenermaßen für andere Menschen eingesetzt hat. Das impliziert, dass er Stalinist war, anderenfalls hätte er sich nicht einsetzen können. Es impliziert ebenso, dass er von den Verbrechen wusste. Dann stellt sich aber die Frage, warum er sich nicht zumindest nach dem Krieg abgewandt hat, wenn er Bescheid wusste, bzw. warum er bis ‚68 brauchte, um endlich am Totenbett zaghaft den Einmarsch in die Tschechoslowakei in Frage zu stellen. Das alles genügt, um den Vater zu kritisieren. Ein solcher Vater ist alles andere als ein „bewundernswerter Mensch“, für den ihn Markstein hält. Es ist wie in Harald Welzers Buch „Opa war kein Nazi“, in dem die Interviewpartner ihre Eltern und Großeltern exkulpieren. Da werden antisemitische Großmütter zu heldenhaften Beschützerinnen Verfolgter oder es heißt: „Mein Mann war bei der SA, aber er war kein Nazi.“ Die Eltern und Großeltern waren nicht böse. In derselben Weise verteidigt Elisabeth Markstein ihren Vater. Er war ja so empfindsam. Nette Empfindsamkeit, das Kind zu Pflegeeltern zu geben. Nicht nur die infantil gebliebene ödipale Liebe zum Vater macht sie blind, auch die in der sowjetischen Gemeinschaft erlebte Geborgenheit macht es ihr unmöglich, ein erwachsenes kritisches Verhältnis zum Vater und in erweiterter Folge zum Stalinismus/ Kommunismus zu haben. Stolz berichtet Markstein, dass sie 1971 aus der KPÖ ausgeschlossen wurde. Ein erwachsener Mensch tritt, wenn er mit der Sache abgeschlossen hat, einfach aus. Markstein aber kämpft gegen die Partei — ein auf die Partei verschobener pubertärer Protest. Im letzten Drittel des Buches schreibt Markstein über ihre unzähligen Bekanntschaften mit Berühmtheiten wie Solschenizyn, dessen „Archipel Gulag“ sie teilweise übersetzte, Heinrich Böll, Lew Kopelew, Jossif Brodski und viele andere. Schade, dass die Fülle dieser Lebenseindrücke so knapp abgehandelt wird. 165 Seiten für ein bewegtes 80-jähriges Leben sind mager, auch da es den geschilderten Personen insgesamt an Lebendigkeit mangelt und die Erzählung bisweilen oberflächlich bleibt. Alles in allem aber ein interessantes und einmaliges Zeitdokument. Claudia Erdheim Elisabeth Markstein: Moskau ist schöner als Paris. Wien: Milena 2010. 179 S. Euro 17,90 Die Gedichtform will ich wählen, weil Vers und Reim mir von daheim erzählen. Diese Zeilen verfasste der Wiener Neustädter Widerstandskämpfer Karl Flanner im Jahre 1940 in der Männerstrafanstalt Karlau in Graz, wo er wegen „Hochverrat“ gefangen saß. Er überlebte die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald und seine Verse eröffnen die von Alicia Allgäuer und Ihomas Schmidinger herausgegebene Anthologie. Die hier versammelten und großteils bisher unveröffentlichten Gedichte setzen sich in insgesamt 19 Sprachen mit den Themen Flucht und Migration, mit Österreich, mit Folter und Entwurzelung, mit der Sehnsucht und ihren Gespenstern, mit Bambusfackeln und Wanderdünen sowie mit mehrsprachigem Denken und Arbeiten auseinander. Neben Flüchtlingen und MigrantInnen oder ihren Nachkommen sind auch AutorInnen, die 1938 aus Österreich fliehen mussten, vertreten. Es finden sich vertraute Namen wie Herbert Kuhner, Alfredo Bauer, Hedwig Brenner, Tarek Eltayeb und Seher Cakir, neben jungen Unbekannten wie Nara Jaberi, Negar Roubani oder Jelena Dabié. Die Gedichte sind jeweils auf Deutsch und in den Sprachen der VerfasserInnen abgedruckt, in Arabisch, Englisch, Russisch, Spanisch, Romanes, Japanisch, Tibetisch, Farsi, Urdu, Türkisch, Tschetschenisch, Serbokroatisch, Kurdisch, Bulgarisch... Einige der Kurzbiographien zeugen von einem sehr bewussten und persönlichen Umgang mit Sprache(n). So heißt es bei Nara Jaberi, die als Kind aus dem Irak in den Iran und von dort weiter nach Österreich floh: „Kurdisch ist für sie die Sprache der Mutter und der Familie, mit der sie Wärme und Gemütlichkeit verbindet, aber auch eine Weichheit, die manchmal bedrohlich wirkt. Irakisch-Arabisch, die Sprache des Vaters, erscheint ihr oft männlich und kantig, aber Gedichte in dieser Sprache schätzt sie dennoch besonders.“ Bei Bulat Chetchensky erfährt man mehr über die tschetschenische Sprache, während Aftab Husain neben — hauptsächlich als Umgangssprache verwendetem — Urdu auch in Hindi, Punjabi und Englisch schreibt. Vom 1937 in Wiener Neustadt als Paul Koppel geborenen Aphoristiker Elazar Benyoötz erfährt man, dass er sich in den frühen 1960er Jahren wieder nach Österreich und Deutschland aufmachte, um die jüdisch-deutsche Literatur durch die Gründung der Bibliographia Judaica zu retten. Schreiben könne er nur in Jerusalem, „gelesen wird sein wunderbares Werk in den Ländern seiner Geliebten, der deutschen Sprache“. Ein Zitat aus seinem Gedicht „Prodomollmajor“ gab auch dem Buch seinen Titel. Diese wunderbare Sammlung von LyrikMigration lässt sich schen und muss Verbreitung finden. Ein von den Herausgebern liebevoll betreuter Band; ein vom in Wiener Neustadt ansässigen, engagierten Verein Alltag aufwendig gestaltetes Layout; ein genussreiches, aber auch verstörendes und streckenweise lustiges Lektüreerlebnis. Das mit verschiedenen Schriften arbeitende Buch ist zwar nicht so umfangreich wie die 2008 bei Haymon erschienene Anthologie „Neue österreichische Lyrik - und 1-2/2010 87