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Gedenkstein für die österreichischen Opfer des NS-Massenmordes in Minsk. Foto: Ernst Fleischhart singt in einer großen Terz. Die weißrussische Reiseführerin versprach uns zu erzählen, ob die Samen aufgegangen seien, wenn sie wieder mit einer Gruppe an diesen Ort käme - Vergissmeinnicht, Türkische Nelken, Blumenwiese. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands kennt viele von ihnen, den über 9.000, beileibe nicht alle. Von manchen wissen wir ihre Verdienste, wie von Elsa Bienenfeld, der Musikkritikerin, oder von Alma Johanna König, der Dichterin, oder von Kurt von Redlich, Musikkritiker. Das Verdienst der Meisten ist ihre Beziehung zu uns: die Stiefmütter, Geschwister, Großeltern derer, die unsere Leben prägten. Die den Abtransport in die Hölle erlebten, ahnten, mit dem mitgegebenen Marmeladeglas zu mildern, zu verharmlosen versuchten. Viele von denen haben niemals nachgefragt, sie hatten ja Gewissheit; jede Generation darf einen anderen Weg gehen, wie viel Wissen sie ertragen kann. Vor der Hölle, in der Hölle, nach der Hölle - so sehen die überlebenden Frauen aus dem Ghetto im Minsk ihre Lebensabschnitte. Das Überleben war Zufall, der seltene Gewinn im Glücksspiel, 6 _ ZWISCHENWELT von den ewig Gestrigen Beweis für die Möglichkeit des Überlebens, es kann nicht so schlimm gewesen sein, sagen die Misswollenden. Der Zufall des Weiterlebens war im Versteck ganz knapp neben den Bajonetten der Mörder, in der Rauchwolke, in der die Flucht den Mördern unsichtbar blieb, im Gang ins Nachbardorf, wenn man bei der Rückkehr die Vernichtung entdeckte, in einer unentdeckten Nische im Leichen- und Holzberg. Wer überlebte, bemerkte nicht, dass ihm ein Auge fehlte, den Hunger schon lange nicht mehr. Das Erinnern der Nachgeborenen beginnt oft weit weg. Im Angesicht des unehelich geborenen Kindes brechen die Schmerzen um die verlassene „jüdische“ Frau eine Generation davor auf, als die kleine persönliche Grausamkeit grauenhafte Auswirkungen bekam, politische Dimensionen hätte ich fast gesagt, könnte man von Politik bei den Nazis sprechen. In einem Datum, das sechzig Jahre später bei einer Uraufführung wiederkehrt, in einer Messe, die einen abgeklärten, hoffnungslosen Text der Mutter vertont, die ihr Leben lang mit der Vertreibung ihrer Eltern leben musste. Ungeehrt, mitleidslos, betrogen gar. Manche fanden Worte, eine Tochter diese: „Wenn Gott allwissend ist, wird er mich verstehen, dass ich nicht an ihn glauben kann. Wenn Gott aber barmherzig ist, wird er mir verzeihn.“ Das Erinnern ist unser Erleben. Wir Unvertriebenen, die sich nicht Überlebende nennen können, gehen den Vorfahren nach, ohne sie gekannt zu haben. Wir verdanken ihnen eine ungeschriebene Geschichte, wie Sterbende, die den Weiterlebenden Mut machen und vom Leben reden statt vom Nachleben. Ob diese Geschichte in Maly Trostinec zu finden ist, bleibt offen, wo die längst zu Wertlosen Gewordenen vergraben, aber nicht beerdigt wurden, wo sie keine Ruhestätte fanden, aber ruhig gestellt wurden, wenn die Gaswaggons nach 15 Minuten des Zitterns stille standen. Der Weg wurde soweit als möglich begangen, er ist ein Angebot für Nachfolgende. Warum ich ging? Weil der Umweg eine Vorbereitung für Unerwartetes ist, weil man ein bisschen zu weit gehen muss, um rechtzeitig mitzukommen. Es war keine Reise in die Vergangenheit: wir erlebten Weißrussland, dieses geprügelte Land, in dem eine oder einer von vier die politischen Regime des 20. Jahrhunderts nicht überlebte. Das Mahnmal in Chatyn, wo einst eines der vernichteten Dörfer stand, zeigt ein Quadrat von vier Bäumen, an Stelle des vierten steht eine Urne. Die Geschichte der Vertriebenen aus Österreich traf auf die Geschichte der vernichteten Volksfeinde. Wir tun uns schwer mit einer Tradition des NS-Erinnerns, diese Erinnerung eint uns nicht, trägt nichts zu patriotischen, frommen, gar erhabenen Gefühlen bei. Diese Leben endeten unerheblich, ungehoben. Die Geschichte der Wertlosen sollte nicht aufgehoben sein, weder in der Familiengeschichte noch in der Geschichte unseres Staates. Wer mag, kann gehen. Irene Suchy, Musikwissenschafterin und ÖI-Redakteurin, ist den Großeltern ihres verstorbenen Mannes Otto M. Zykan nachgereist, Betti und Alexander Himmelreich.