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Marianne Windsperger That what we had achieved, what we had experienced, finally, during the course of all of our searching, was precisely what history is. Daniel Mendelsohn: The Lost! Die Schwierigkeit, eine Reise nach Galizien zu beschreiben, beginnt damit, dass Galizien heute nicht mehr existiert. Heute liegt diese historische Region in Polen und der Ukraine, früher gehörte Galizien zum Habsburgerreich. Mit der wechselhaften Geschichte Galiziens ist man auch immer wieder konfrontiert, wenn es um die Wahl der Ortsnamen geht: Lemberg, L'viv, Lwöw... Was passiert mit einem Ort, wenn ich mich für einen Namen entscheide? Schränke ich den Ort auf ein Narrativ ein oder lasse ich auch Vielfalt und Vielstimmigkeit in meinen Betrachtungen und Beobachtungen zu? Diese Fragen stellten sich im Zuge unserer Exkursion, die wir als Gruppe von StudentInnen des Doktoratskollegs „Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe“ der Universität Wien im Juni 2010 unternommen haben. Antworten auf diese Fragen gibt es nicht, die Beschreibung dieser Reise muss ein Versuch bleiben, Galizien zu definieren. Der Nabel der galizischen Welt: Lemberg, L'viv, Lwöw 16 Stunden dauert die Bahnfahrt von Wien nach L‘viv, am Budapester Keleti Pälyaudvar müssen wir umsteigen. Früher, als die Züge noch den Dampf Kakaniens ausstießen, konnte man die Strecke von Wien nach Lemberg in acht Stunden bewältigen. Der Nabel der Stadt L'viv ist der Bahnhof, von hier aus werden wir die Stadt erkunden. Einen kurzen Überblick über die Stadt und die verschiedenen Geschichten, Traditionen und Religionen der Bewohner verschaffen wir uns aufeinem Spaziergang, der uns unter anderem zur armenischen Kathedrale, zur griechisch-katholischen Sankt-Georgs-Kathedrale, zur Ivan Franko-Universität und zu jenen Plätzen führt, wo einst die galizischen Juden lebten und ihren Glauben praktizierten. Das heutige Hauptgebäude der Ivan Franko Universität war bis 1919 Sitz des galizischen Parlaments, von dieser Vergangenheit zeu gen bis heute die Figuren der „Beschützer des Geistes von Galizien“ über der Attika. Jonathan Safran Foer beschreibt in seinem Roman „Everything is Illuminated“? Lviv als eine Stadt aus Beton, als ein New York des Ostens und eine Stadt mit vielen Plätzen, wo einst Monumente standen, die heute nicht mehr hier sind. Auch uns interessieren diese Orte: Wir besuchen jene Stelle, an der eine Gedenktafelan die 1943 durch die Nazis zerstörte Goldene Rose-Synagoge erinnert. Teile des Gebäudes sind noch als Ruinen erhalten, der einstige Innenraum der Synagoge ist von Unkraut überwuchert. Direkt neben diesem Schauplatz der Geschichte ist ein Cafe, das den auch für Touristen lesbaren Namen „At the Golden Rose Restaurant“ trägt. Die Eröffnung dieser Gaststätte löste in L'viv Diskussionen über den Umgang mit dem jüdischen Erbe aus. Auch die Besichtigung der Stefanyk-Bibliothek steht auf unserem Programm. Eine Angestellte führt uns durch die Lesesäle und erzählt die Geschichte des Hauses, ungesagt bleibt, warum diese Bibliothek gerade im Jahr 1939 ihre Bestände erweitern konnte. In der Handschriftensammlung zeigt uns die Restauratorin einen Brief von Victor Hugo, ein Diplom aus Kaiserzeiten und — auf Nachfrage — eine Thorarolle. Lviv ist eine Stadt mit vielen Vergangenheiten, aber auch eine Stadt mit einer nicht tibersehbaren Gegenwart: jede Menge Cafes, Bars und schicke Laden richten sich an ein junges, aber auch zahlungskraftiges Publikum. Vielleicht will L‘viv — wie jede Stadt - ein bißchen New York sein, aber vermutlich will L'viv einfach als moderne Stadt und nicht bloß als Museum wahrgenommen werden. Das Lager der Todesarten: Janowska Das ehemalige Konzentrationslager Janowska liegt im Stadtgebiet von L'viv. Der Lemberger Student Maxym Martyn hat zu dem Lager gearbeitet. Er führt uns mit einem Umweg über einen Friedhof zu dem ehemaligen Konzentrationslager. Besichtigen kann man diesen Ort selbst nicht, denn in Teilen des Lagers ist heute ein Gefängnis untergebracht. Wir müssen durch einen Wald aufeinen Hügel klettern, um aufdas Gelände von jener Anhöhe zu blicken, aufder einst ein Wachturm stand. 1941 wurde das spätere Konzentrationslager als Rüstungsfabrik für die Deutsche Wehrmacht errichtet: Juden und Polen aus Lwöw wurden hier zur Zwangsarbeit eingesetzt, sie waren in Baracken untergebracht; geleitet wurde die Fabrik von 12 bis 15 SS-Offizieren. Janowska war ein Laboratorium der Todesarten, lese ich nach. Janowska wurde von der Waffenfabrik zum Arbeitslager, war dann Durchgangslager, Konzentrationslager und schließlich Vernichtungslager, heute Gefängnis. Alle diese Bezeichnungen geben nur wenig Aufschluss darüber, was die hier internierten Menschen durchlebten. Untersuchungen nach dem Krieg ergaben, dass aufgrund der auf dem Territorium des Lagers gefundenen Asche und Knochenreste hier 100.000 bis 200.000 Menschen ermordet wurden. Immer wieder frage ich mich im Laufe dieser Reise, ob und wie an diesen überschriebenen Orten Gedenken möglich ist? 3/2010 7