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familie von 1848 bis zum Exil in der Neuen Welt. Mit ihr hat Bauer eine modellhafte Historiographie der Wiener Stadtgesellschaft vorgelegt, indem er etwa 100 Jahre Wiener politische Geschichte mit einer Familie auch ein erzähltes Archiv österreichischer und argentinischer Lebensläufe anlegt. Ein dreifacher Glücksfall war dabei im Spiel. Sein Urgroßvater Adolf Baiersdorf, der aus dem slowakischen Städtchen Topol'tany zum Medizinstudium nach Wien gekommen, 1848 wegen revolutionärer Tätigkeit nicht nur monatelang von Polizei und Militär verfolgt, sondern von der medizinischen Fakultät relegiert worden war, hatte umfangreiche schriftliche Dokumente über sein Leben hinterlassen, die sich im Besitz einer Tante Alfredo Bauers befanden. Dieser war nicht nur beschieden, Deportation und Gefangenschaft in einem Konzentrationslager zu überleben, sondern nach ihrer Rückkehr wieder in den Besitz dieser Schriften zu gelangen, die sie ihrem Neffen als Grundlage für sein Romanvorhaben zur Verfügung stellen konnte. Von jenseits des Atlantiks hat Alfredo Bauer mit dieser Chronik bürgerlicher Emanzipation und Gestaltungsvermögens, von Migration und beiderseitiger Fähigkeit zur Integration, von Menschenhass und Zerstörungslust wertvolle Aufklärungsarbeit für die Stadt seiner Herkunft geleistet. Eine ihrer Lehren, dass bürgerliche Verdienste auch schlagartig zu Gründen der Verfolgung werden können, stimmt bitter. Dass etwa Alfredo Bauers Großvater Dr. Alfred Leopold Mittler als engagierter Rechtsanwalt Mitglied des Wiener Gemeinderats war, nützte in späteren Jahren der Familie ganz und gar nichts. Bis jetzt musste dieser Romanzyklus das jahrzehntelange Los Alfredo Bauers teilen: in Österreich lange vergessen. Dass sich dies ändert und schon geändert hat verdanken wir vor allem dem Schriftsteller Erich Hackl und den Exilforschern Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser. Letztere haben u.a. die erstmalige Publikation aller fünf Bücher des Zyklus in deutscher Sprache initiiert, die wir für kommendes Jahr erwarten dürfen, ersterer konnte mit Bauer in Buenos Aires vor mehr als 20 Jahren Kontakt knüpfen und hat seither nach Kräften Bauers literarisches Werk in dessen Geburtsstadt bekannt gemacht. Alfredo Bauers folgende literarische Gedankenverbindungen zu Wien und Österreich, ein Roman über Stefan Zweigs Exiljahre und dessen Ende in Brasilien, ein historischer Roman über die aus Machtkalkül mit Napoleon verheiratete Marie Louise von Habsburg und der biographische Roman Verjagte Jugend wurden darauf hin in ihrer deutschsprachigen Fassung in Wien veröffentlicht. Einen neuerlichen ideengeschichtlichen Brückenschlag zwischen Europa und Lateinamerika hat Alfredo Bauer zuletzt mit seinen Mythen-Szenen geschaffen. In kurzen Dialogstücken greift er markante Motive der alttestamentarischen, der antiken, der indigen amerikanischen, der christlichen und germanischen Mythenwelt auf, reaktiviert, kommentiert oder parodiert sie und zeigt damit ein über rund drei Jahrtausende gespanntes Panorama von weltweit verständlichen menschlichen Erklärungsversuchen der Beschaffenheit des Lebens. Somit ist er nach 65 Jahren wieder zur unterhaltsam aufklärenden Kleinkunstform seiner literarischen Anfänge zurückgekehrt. Alfredo Bauer bringt in seiner Literatur das zuwege, was in den realen Lebensverhältnissen da wie dort so schwer fällt: trotz aller Unterschiedlichkeit und Eigenheit den gemeinsamen Kern der Existenz gelten zu lassen und in menschenfreundlicher Offenheit und seiner selbst bewusst zu hüten und zu stärken. Daziu gehören Bescheidenkeit, Liebe zu den anderen und Klugheit, Tugenden, die Alfredo Bauer sein Leben lang hochgehalten, deren Früchte er dies- und jenseits des Atlantiks freigiebig verschenkt hat. Wir danken es ihm persönlich und die Stadt Wien erweist seinen Lebens- und Schreibverdiensten heute ihre Anerkennung und Würdigung. Kurt Neuman, Autor und gelernter Mediziner, leitet seit 1977 das „Literarische Quartier — Alte Schmiede“ in Wien. Alfredo Bauers „Die uns vorangegangen sind“ Am 1. Oktober 2010 wurde mit Alfredo Bauer das Publikationsvorhaben „Die uns vorangegangen sind“ in Wien vorgestellt. Die Präsentation, eine Zusammenarbeit der Theodor Kramer Gesellschaft, des Literarischen Quartiers — Alte Schmiede und des Österreichischen Literaturarchivs (ÖLA) in der Österreichischen Nationalbibliochek gab einen Überblick über die bisher nur auf Spanisch erschienene Pentalogie „Los companeros antepasados“. Es handelt sich dabei um einen mit der Geschichte einer Wiener Bürgerfamilie verknüpften historischen Romanzyklus. Er beginnt im Revolutionsjahr 1848 mit dem Medizinstudenten Adolf Baiersdorf als Protagonisten — Alfredo Bauers Urgroßvater —, der bei der Revolution mitkämpft; erzählt über Bauers Vater als jungen Soldaten im Ersten Weltkrieg und führt bis hin zu Ereignissen aus Alfredo Bauers eigener Generation, seiner Flucht nach Argentinien und zum Leben im Exil. Alfredo Bauer und Monika Tschuggnall im Studio Leander Kaiser. Foto: timeline.at/Rudi Handl Dieses Epos einer Wiener Bürgerfamilie ist spannend und beriihrend, mit einer Leidenschaft geschrieben, die den Leser mitreißt und ihm bewegende Bilder von hundert konfliktreichen Jahren Österreichs vor Augen führt. Als Anstoß und erste Grundlage für die Pentalogie diente Bauer das Tagebuch seines Urgroßvaters. Adolf Baiersdorf schrieb noch 3/2010 25