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Noch im selben Jahr, 1974, veröffentlichte Enrique Medina einen weiteren Roman, der seiner Ansicht nach die Zensurbehörden besänftigen sollte. „Transparente“ („Transparent“) ist die Geschichte der Tochter spanischer Einwanderer, die sich als Putzfrau durchschlägt und sich und ihren Sohn vor der Gewalt ihres Mannes schützen muss. Das Leben der Protagonistin Etelvina erinnert über weite Strecken an das seiner Mutter, und dieses Baby, das sich mit einer Apfelsteige, ausgelegt mit Zeitungspapier, zufrieden geben muss, das ist wohl der kleine Enrique. Der Militärputsch vom 24. März 1976 machte das bereits zuvor existente repressive Klima amtlich. General Jorge Rafael Videla ließ in zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen auch keine Zweifel daran, dass er nicht nur den bewaffneten Widerstand gegen die Junta ausmerzen wollte, sondern auch die Kultur als Schlachtfeld ansah. Und im selben Jahr veröffentlichte Enrique Medina seinen Roman „El Duke“, der nun in der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Der Boxer“ vorliegt. Es ist die Geschichte eines ausrangierten Boxers, so gesehen eine wenig schmeichelhafte Hommage an seinen Vater, den Enrique Medina nie kennen gelernt hat. Dieser Boxer heuert allerdings nach dem abrupten Ende seiner Karriere als Berufskiller und Folterer an. Die historische Vorlage stammt eigentlich aus den Zeiten Juan Domingo Peröns. Die politische Rechte lancierte damals niemals bestätigte Gerüchte, wonach ehemalige Boxer auf Polizeistationen bei dem einen oder anderen Geständnis nachgeholfen haben sollen. Als der Roman allerdings 1976 erschien, waren die Assoziationen zum aktuellen Regime wohl kaum zu unterdrücken. Die Junta wertete das Buch auch als Angriff aufihr Regime und die Kulturabteilung der Stadt Buenos Aires verbot es mit dem Dekret Nr. 579 vom 27. Dezember 1976. Der Cineast Enrique Medina ließ sich in den Perspektivierungen von Orson Welles‘ „Citizen Kane“ (1941) inspirieren, als er 1976 die Geschichte des Boxers namens „El Duke“ niederschrieb. Wie ein Puzzle fügt sich so die Handlung aus verschiedenen Strängen zusammen, die durch die kriminellen Machenschaften des Folterund Mordensembles Duke, Walter und Sorel nur in den sicheren Tod aller drei führen kann. Wie immer verschont uns Enrique Medina dabei nicht mit grausamen Details, erzählt aber vor allem, was den Duke zu dem gemacht hat, was er ist: Seine Mutter schlägt sich als Putzfrau durchs Leben, sie stirbt früh, in einem Schlachthof entdeckt er seine Lust am Töten. Seine unerwartete Karriere als Boxer scheint ihn aus seinem Tagelöhnerelend zu reißen, doch eine Netzhautablösung bei einem Kampf sorgt für ein jähes Ende des Traums, kurz vor dem endgültigen Durchbruch. Die Zufallsvermutung, also die Annahme, Enrique Medina habe den Schritt, dieses Buches zu diesem Zeitpunkt zu veröffentlichen, ohne Vorahnung über die Konsequenzen getan, gilt hier nicht mehr. Denn bereits 1975 brachte ihm die Veröffentlichung seines Erzählbandes „Las Hienas“ („Die Hyänen“), der bereits Elemente des Boxers enthält, die Verfolgung durch die paramilitärische Einheit „Triple A“ („Allianza Anticomunista Argentina“, „Argentinische antikommunistische Allianz“) ein.® Auch sein Roman mit dem zugegeben moralisch gesehen provokanten Titel „Striptease“ wurde im selben Akt wie die Zeitschrift „Playboy“ mit einer Verkaufsbeschränkung belegt.? Nicht ohne Grund bezeichnen Hernän Invernizzi und Judith Gociol in ihrem Buch „Un golpe alos libros“ („Ein Schlag gegen die Bücher“) in ihrer Bestandsaufnahme über kulturelle Zensur von 1976 bis 1983 Enrique Medina als jenen Autor, der von den Behörden am systematischsten verfolgt wurde.!’ Denn bei den eben genannten Zwischenfällen blieb es nicht, doch Enrique Medina hörteauch nicht auf zu schreiben. Es war, als ob er mit jedem Rückschlag nur noch vehementer gegen Diktatur und Zensur anschriebe. Mittlerweile hat dieser Autor 24 Werke veröffentlicht; das letzte, der Roman „El fiera, el pibey los otros“ (,,Das Raubtier, das Kind und die anderen“) erschien erst 2010. Und obwohl 1984 sogar in einem offiziellen Akt die Verbote seiner und anderer Werke aufgehoben wurden, ist Enrique Medina, der zur Offnung der argentinischen Literatur fiir die argentinische Realitat Entscheidendes geleistet hat, selbst im eigenen Land nach wie vor weitgehend unbekannt. Immerhin hat er Argentiniens Literatur aus den Fangen der sprichwértlichen Belle-Tristik eines Jorge Luis Borges mit harten Worten und noch unangenehmeren Themen befreit und wieder in die argentinische Realität zurückgeholt. Sein Erstlingsroman „Las Tumbas“ („Die Gräber“) von 1972, in dem er seine Gewalterfahrungen als Sozialwaise in einer Jugenderziehungsanstalt verarbeitet, zählt mit über YPALIDAD DE y : ‚wıcrı 2. "a. Cry „er PAD nn. Sc BUEN ¢ Geliffoense publicaciones, 2% ATE Buenos Aires, 27 Asesora par 2 5 2 Pldst 1 ‘ del de 77 (B.M. 13706) y en us denanza 25702 (B.u. 1° — Deciérase encuaäredo 10 5°, incieo b) de} libro titulado "EL Die" 2° = Decléranse encuadr tic bicién limiteda" n® 36, del 30 de a; iMACATT b "MACABRO", n° ı ~-—8@ ba le Inspeccién General. 1708/12 acr / / epm A 2 (5 LU wo) v ; 7 om L 5 mu RIQAT tere nas wa Die Kulturabteilung der Stadt Buenos Aires verbot den Roman „El Duke“ mit dem Dekret Nr. 579 vom 27. Dezember 1976. Foto: flom 2007 3/2010 27