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Becher und seine Frau zogen nach Rio de Janeiro. Es war Becher jedoch nicht möglich, sich hier eine neue Existenz als Schriftsteller aufzubauen. Nach dem Umzug nach Säo Paulo Ende 1943 konnte Becher zumindest Beiträge in den Zeitschriften Estado de Sao Paulo, Das andere Deutschland (Buenos Aires) und Freies Deutschland (México, D.E) veréffentlichen. 1944 gelang es Alexander Roda Roda in New York, wo er mit seiner Frau 1940 vor den Nationalsozialisten Zuflucht gefunden hatte, die nötigen US-Visa für die Tochter und den Schwiegersohn zu erlangen, und die beiden konnten Brasilien verlassen. Dennoch sollten die drei Jahre des brasilianischen Exils unverkennbare Spuren im literarischen Werk von Becher hinterlassen. Es dauerte allerdings bis 1950, bis er mit dem Brasilianischen Romanzero das erste Werk mit unverkennbar brasilianischer Ihematik veröffentlichte. Ein Jahr später fand die Uraufführung seines ersten in Brasilien spielenden 'Iheaterstückes Samba im Wiener Theater in der Josefstadt statt. Vor allem das lebensfrohe Karnevalstreiben von 1942 in Zeiten eines zerstörerischen Weltkriegs auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans hatte Bechers Bild von dem Zufluchtsland so nachhaltig geprägt, dass er es wiederholt zum Thema seiner späteren Werke machte. In Samba dienten diese unvergesslichen Impressionen des Karnevals- und Sambatreibens Becher gleichsam als Folie, auf der er die Geschichte der Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus in Brasilien erzählte, indem er auf Anraten seines Freundes George Grosz ein Werk mit dem Thema „Europa im Urwald“ ausarbeitete.” Dabei setzte er sich ganz konkret mit seinen eigenen als Exilant in diesem Zufluchtsland gemachten Erfahrungen auseinander. Im Stück ist das kleine, billige Hotel Duque de Caxias am Rande des brasilianischen Urwalds zum Fluchtpunkt für den umtriebigen Dichter Julius Kornau, die beiden Wienerinnen Emanuela Knotek, genannt Mana, und die Romanistin Dr. Rosa Goldscheider, sowie den sich als einen „exilierten legitimistisch-österreichischen Staatsmann“? in Dienste des Hause Habsburg bezeichnenden k.u.k.-Hauptmann a.D. Franz Augustin und den Luftfahrtingenieur Leo Parisius geworden. Becher, der immer wieder bei der Ausarbeitung von Charakteren für seine Werke auf reale Vorbilder zurückgriff, ließ sich für Samba einfach durch die Mitglieder der „Gruppe Görgen“ anregen. Für Dana Roda-Becher waren die literarische Verarbeitung und die Realität sogar ein und dasselbe. Ich weiß nur die wirklichen Namen |[...] von den Leuten; das sind nämlich Porträts.“ „Mit Kornau zeichnet Uli sehr frei ein Porträt von sich selbst, Mana ist ein idealisiertes von mir, Parisius etwa Walter Kreiser, der [...] die Rüstung der Schwarzen Reichswehr ‚verraten‘ hat, Hauptmann Augustin stellt einen kauzigen k.u.k. Offizier namens [Paul] Philipp dar. Als Vorbild für die Figur der Dr. Rosa Goldscheider diente die Romanistin Dr. Susanne Bach, eine Freundin von Dana RodaBecher, die sich nach dem Krieg als erste der Untersuchung des deutschsprachigen Exils in Brasilien widmen sollte. Wie wirklichkeitsnah Becher bei der Gestaltung der Biographien seiner Charaktere trotz einiger hinzugefügter dichterischer Elemente vorging, veranschaulicht die Erwähnung von besonderen Lebensgewohnheiten. Hinsichtlich Parisius ist es sein hoher Alkoholkonsum. Dana Roda-Becher beschrieb ihren Eltern gegenüber Walter Kreiser, der als Vorbild für diese Figur diente, als den „Ingenieur, der immer betrunken ist [...] Ich hab den übrigens besonders gern, er ist ein f Hl € “ m mt) € : ul I he Net en Axl Leskoschek: Brasilianische Wahlen, Holzschnitt. „Amazem“ ist das örtliche Magazin, das von den Soldaten als Wahllokal verwendet wird. Gleich den anderen Abbildungen von Werken Leskoscheks entnommen aus: Der Illustrator Ax| Leskoschek. Mit Axl (Edler von) Leskoschek (1889 Graz — 1976 Wien), geb. als Sohn eines hohen Offiziers der K.u.K. Armee geboren, studierte bis 1917 Jus; als Jadgflieger im Ersten Weltkrieg schwer am Kopf verwundet. Nach dem Krieg Kunststudium in Graz und Wien. Maler, Buchillustrator und Mitarbeiter der sozialdemokratischen Grazer Tageszeitung „Arbeiterwille“ (u.a. zusammen mit Ernst Fischer). 1919 bzw. 1923 Mitbegründer des Grazer Werkbunds „Freiland“ und der Grazer „Sezession“. 1925 Österreichischer Staatspreis für sein graphisches Werk. Kämpft am 12. Februar 1934 in Graz auf Seiten des Schutzbundes und wird nach 1934 Kommunist. Wiederholt inhaftiert, auch im Anhaltelager Wöllersdorf. Dazwischen versucht er, in der CSR und in Wien unter falschem Namen unterzutauchen. Franz Theodor Csokor und die britische Labour Party setzen sich erfolgreich fiir seine Amnestierung ein. 1937 mit Otto Basil, Herbert Eichholzer und Kurt Neumann Mitbegriinder die Avantgarde-Zeitschrift „Plan“. Flieht am 12.3. 1938 mit Eichholzer in die Schweiz, wo er seine spätere Frau Marussja Biske kennen lernt. 1940 auf Lebenszeit aus der Schweiz ausgewiesen. Zuflucht in Braslien, wo er von Jänner 1941 bis August 1948 lebt. Er unterrichtet an der Akademie der Bildenden Künste in Rio de Janeiro; wird in Brasilien zu den bedeutensten Holzschneidern des Jahrhunderts gezählt. Er illustriert auch Ulrich Bechers Versbuch „Brasilianischer Romanzero“. Leskoschek ist übrigens Bechers Vorbild für Albert Trebla, die Zentralfigur seines 1969 erschienen Exil-Romans „Murmeljagd“. 1948 Rückkehr nach Wien. Arbeit am Odysseus- und Kainzyklus. In Brasilien hoch geehrt, in Graz und Wien als Kommunist gemieden. 1968 Preis der Stadt Wien für Bildende Kunst. Eine 1989 zu seinem 100. Geburtstag geplante Ausstellung muss wegen Geldmangel abgesagt werden. — Vgl. auch: Jose M. Neistein: Ein österreichischer Künstler im Exil: Die brasilianischen Jahre des Axl von Leskoschek 1940-1948. In: MdZ Nr. 2/1996, 19-22. 3/2010 29