feiner Bursche unter seiner Rauhheit.“'® Er war das gefährdetste
Mitglied der „Gruppe Görgen“, da er 1931 gemeinsam mit Carl
von Össietzky im berühmten Weltbühne-Prozess angeklagt und
wegen Verrats militärischer Geheimnisse zu einer Freiheitsstrafe
von 18 Monaten verurteilt wurde. Kreiser entzog sich jedoch der
Haft durch Flucht. '!
Auch gab Becher die damals herrschenden zwischenmenschlichen
Harmonien und Disharmonien innerhalb der „Gruppe Görgen“
wirklichkeitsgetreu wieder. Dies bedeutet, dass das Verhältnis zwi¬
schen Parisius und Kornau von Widersprüchlichkeit und Span¬
nungen gezeichnet ist. Einerseits spottet Parisius öffentlich über
Kornau und dessen schriftstellerische Arbeit. „Unser verkanntes
Genie [...] der vielversprechende Dichter Kornau [...] Er fummelt
an einem dicken Roman. Er ist ganz plemmplemm damit.“ Dies
war identisch mit Kreisers in der Privatkorrespondenz für Becher
in Anführungszeichen verwandter Bezeichnung „Dichter“ mit dem
Zusatz „Ireibhausphantasien“, um zu unterstreichen, dass dessen
Aussagen etwas „Erdichtetes“ seien und nicht der Wahrheit ent¬
sprachen.?
Andererseits bewundert der Schriftsteller Kornau den Ingenieur
fiir sein politisches Engagement und erachtet dieses Verhalten als
nachahmungswiirdig. Parisius nimmt in diesem Sinne die Rolle
des Alter Ego von Kornau im Stiick ein. Diese beiden Figuren
repräsentieren den inneren Konflikt, mit dem sich Kornau im Fxil
konfrontiert sieht: dem Zwiespalt zwischen dem Aufbau einer neu¬
en Existenz im Zufluchtsland und der Rückkehr nach Europa, um
sich dort dem aktiven Widerstand und Kampf gegen den Faschis¬
mus anzuschließen. Dabei scheinen Parisius und Kornau zunächst
diametral entgegengesetzte Ansichten zu vertreten.
PARISIUS [...] Gedenke nicht, mich hier häuslich niederzulassen.
Krieg hat mich hergeschwemmt. Werde mich bifchen von der Sonne
trocknen lassen, dann hau ich sofort wieder ab. |...] Lieber krepieren
als vegetieren. [...]
Axl Leskoschek, Initiale zu Ulrich Bechers „Brasilianischer Romanzero“
KORNAU [...] Bin froh, daß ich weg bin von drüben. Hab keine
Sehnsucht nach Henkern [...] Bomben. Ich will arbeiten. [...] Ich
muß arbeiten.
PARISIUS Wächter im elfenbeinernen Turm. Werter Bruder Antifa¬
schist, mit Träumern wie Ihnen ist noch kein Krieg gewonnen worden.
[...] Ihr guten Kerle seid keine Kämpfernaturen.““
Bechers Helden befinden sich in einer Ausnahmesituation, die hin¬
sichtlich der persönlichen Verantwortung im Kampf gegen den
Faschismus nicht nur von ihnen verlangt, eine Entscheidung zu
treffen, sondern auch dieser gerecht zu werden. Das Interesse, das
Dilemma der Abwägung zwischen privaten Interessen und histo¬
rischen Notwendigkeiten des Handelns zu beleuchten, beruht auf
Bechers autobiographischer Erfahrung, im Exil aufgrund des da¬
mals in Brasilien herrschenden Verbots der politischen Betätigung
von Ausländern zur weitgehenden Passivität verdammt gewesen
zu sein.
KORNAU [...] Mein Vater: Berlin. Mama: Paris. [...] Meine Frau:
Wien. Bin ich nicht sehr Europa? |...] Was ich nicht weiß, macht
mich heiß. [...] Dieser monströse Todeskarneval drüben... man kann
sich ihm nicht entziehn. Er ist wie ein Magnet. Er wirkt — global; bis
hierher. [...] Meine Arbeit. Sie muß warten.”
Dana Roda-Becher interpretierte Samba in diesem Sinne auch
als ein Stück,
wo sich einer nicht recht entschließen kann. Kornau [...]. Es gibt
zwei Schlüsse: im einen fährt er, im anderen nicht. Das ist typisch
für Uli, weil er ja [...] gedacht hat, er miifste eigentlich. [...] Daff
das eigentlich nicht geht, die anderen Leute aufzufordern und selber
nichts zu machen. Das war wahrscheinlich überhaupt sein Problem.'°
Diesen Zwiespalt dokumentierend, ließ Becher seinen Protago¬
nisten Kornau in der zweiten und letzten Fassung des Stückes von
1965 im brasilianischen Exil bleiben. Dieser neue Schluss schien
laut Bechers Aussagen, dem starken Applaus nach zu urteilen, beim
Publikum Anklang zu finden. Kornau als Kämpfer nach Europa
zurückzuschicken, wie es in der Urfassung von 1957 geschicht,
ist jedoch die authentischere Darstellung von Bechers Ideal eines
künstlerischen Verantwortungsgefühls. „(E)in Künstler muß ein
politischer Mensch sein. Besonders in einer Zeit wie der unseren.“ 7
Die Aufgabe der Autoren sei es, Teil des Volkes zu sein und die
Menschheit zu bilden.
Deshalb finde ich es wichtig, daß wir alle [...] wissen, was los ist,
und zwar aus eigener Anschauung. Darum wollte mein Kornau in
den Krieg gehen [...]. Dann habe ich aber trotzdem etwas Merkwiir¬
diges riskiert. Ich habe den Schluß umgearbeitet. [...] Kornau wird
verschont. [...] Ich kann mich noch immer nicht entschließen, welchen
Schluß ich besser finde. [...] Aber an sich ist es echter für Kornau, selbst
Mit Samba wollte Becher das europäische Publikum auch darauf
aufmerksam machen, dass der Nationalsozialismus auch in einem
so entlegenen Land wie Brasilien, in dem man solches Gedan¬
kengut niemals vermutet haben würde, seine Anhänger gefunden
hatte. Der Repräsentant der brasilianischen Polizei, „der [deutsch¬
stämmige] Kommissar Agamemnon Heredia dos Santos Novais
[...], der öffentlich mit seiner Sympathie für den Nazismus prahlt,
ist die Personifizierung aller Phantasmen, vor denen die deutschen
Flüchtlinge geflohen sind.