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Martin Roda Becher „Ich lebe in der Apokalypse“ Ulrich Bechers Briefe an die Eltern Briefe an die Eltern sind ein literarisch belastetes Genre. Es fällt schwer, sie zu schreiben, ohne an berühmte Vorbilder zu denken. Wenn Schriftsteller, oder angehende Schriftsteller an ihre Eltern schreiben, dann ist ihnen die literarische Vorbelastung zweifellos mehr oder weniger bewusst, auch die Eltern wissen darum, und indem sie die Briefe des Sohnes oder der Tochter über Jahrzehnte aufbewahren, zeigen sie eine Art archivarisches Verantwortungsgefühl. Man schreibt und empfängt hier Nachrichten, die auch für kommende Generationen von Interesse sein könnten. Ich selbst habe meinem Vater nie einen Brief geschrieben und, abgesehen von einigen Postkarten, auch nie welche erhalten. In einer der letzten an mich gerichteten Postkarten — ich war damals etwas achtzehn Jahre alt — gab er mir zu verstehen, dass er von mir die Maturitätsprüfung (das Abitur) erwarte. „Nachher kannst du ja machen, was du willst“, hieß es da. Vermutlich habe ich diese Karte lächelnd beiseite gelegt. Da ich in diesem Alter ohnehin machte, was ich wollte, muss der mir hier gebotene Anreiz ziemlich schwächlich gewirkt haben. Tatsächlich scheint mir diese Karte heute wie ein schwacher Reflex, ein fernes Echo der Elternbriefe zu sein, die den jungen und später gar nicht mehr so jungen Ulrich Becher während mehrerer Jahrzehnte erreichten. Es waren Briefe von, je nach Situation, besorgten, liebenden, zürnenden, empörten, beleidigten, wieder versöhnten, ermutigenden, beratenden, sparsamen, großzügigen, zur Vorsicht mahnenden Eltern — mit einem Wort: gut gemeinte Briefe. Wenn ich in ihnen lese — sie sind in diesem Band nur in einer kleinen Auswahl und in Auszügen abgedruckt -, kann ich mir lebhaft vorstellen, wie belastend sie für den Adressaten gewesen sein müssen, und verstehe im nachhinein, dass mein Vater seinen eigenen Sohn vor solchen Bekundungen besorgter Elternliebe verschonen wollte. Aber dass ich verschont wurde von diesen massiven Briefattacken und gleichzeitig davor bewahrt, ständig gegenüber einer elterlichen Instanz Rechenschaft ablegen zu müssen, Bericht zu geben über meine gegenwärtige Entwicklung, den Stand meiner Arbeit, meinen Gesundheitszustand, meine Trink- und Rauchgewohnheiten, bis hin zu meinem Liebesleben... — dass ich davon verschont wurde, hinterlässt zugleich auch eine gewisse Leerstelle, Bedauern darüber, von der tradierten Lebensklugheit dieser in allen Belangen erfolgreichen Leute, meinen Großeltern Richard und Elise Becher, abgeschnitten zu sein. Wer sind diese Eltern, Elise und Richard, die sich ihrem ältesten Sohn - Uli, wie sie ihn nannten - als unzertrennliche Elterninstanz präsentierten? Sie hätten von Herkommen und kultureller Prägung her verschiedener nicht sein können. Die Mutter: Elise Ulrich, aus dem innerschweizerischen Kanton Schwyz stammend - ihr Vater war zeitweise staatlich angestellter Pächter des Rütli (sozusagen der Ur-Wiese der Schweizer Eidgenossenschaft) —, besuchte als externe Schülerin ein Klosterinternat, war ausgebildete Pianistin, die es in den Anfängen des 20. Jahrhunderts zusammen mit ihren Eltern nach Berlin verschlug, wo sie als Klavierlehrerin arbeitete; und einer ihrer Schüler, nicht der Begabteste, wie man mir sagte, war 34 ZWISCHENWELT Richard Becher: aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie im damals preußischen Posen stammend, Adjunkt am Berliner Kammergericht. In späteren Jahren gründet er eine eigene, schr erfolgreiche Anwaltskanzlei. Ihre Kinder, der 1910 geborene Ulrich und der 1916 geborene Rolf, werden protestantisch getauft, weder vom Judentum des Vaters noch von der katholischer Erziehung der Mutter ist in Ulis Kindheit viel zu spüren. Richard Becher hat mit seiner Familie in Posen wenig Kontakt, und es ist seine Frau Elise, die sich der verbliebenen Verwandtschaftsbeziehungen Richards annimmt und sie pflegt. Sie wird Zeit ihres Lebens rege Kontakte mit allen Familienmitgliedern der weitverzweigten Familie ihres Mannes unterhalten und ist eine begeisterte Anhängerin des Zionismus. Doch für den kleinen Uli ist nicht die väterliche Familie Becher-Pinner prägend, sondern viel stärker der Großvater mütterlicherseits, der ehemalige Rütlipächter, ein Weltenbummler und Verächter konventioneller Lebensformen, der als Inspektor einer Dörrgemüsefabrik in der nahe Berlin gelegenen Arbeitersiedlung Reinickendorf lebt. Von ihm bezieht Uli frühe weltanschauliche Impulse, seinen urchristlich geprägten Sozialismus und die Abneigung gegen jegliche Form von Nationalismus und Militarismus. Vor allem macht der proletarische Lebensstil des Großvaters, der mit dem großbürgerlichen Milieu der Eltern kontrastiert, auf Uli starken und nachhaltigen Eindruck. Die ihm vom Großvater Martin Ulrich eingeimpften antibürgerlichen Affekte blieben ein Leben lang wirksam. Ulis erster umfangreicher, nie zu Ende geführter Roman mit dem Titel „Der Hampelmann“ behandelt das Leben Martin Ulrichs, der neben seinen verschiedenen Brotberufen ein nicht unbegabter Aquarellist war und in seinen letzten Lebensjahren ein umfangreiches anarcho-kommunistisches Manifest verfasste. Ulis Schwierigkeiten in der Schule veranlassen die Eltern, den Zehnjährigen in die Freie Schulgemeinde Wickersdorf zu schicken, ein vom Reformpädagogen Gustav Wyneken geleitetes, im Thiiringer Wald gelegenes Institut, wo großer Wert auf die musischen Fächer gelegt wird. Peter Suhrkamp, der spätere Verleger, unterrichtet Deutsch an dieser Schule, und Uli zählt während einiger Jahre zu seinen bevorzugten Schülern. Als Literaturkritiker wird Suhrkamp in späteren Jahren Ulis ersten Erzählungsband in einem oberlehrerhaften Ton besprechen, der ihm vom jungen Autor nachhaltig verübelt wird. In den Briefen aus der Schulgemeinde Wickersdorf gibt sich Uli anfänglich von einer fröhlichen und unbeschwerten Seite, er schwärmt vom Schulorchester und von Theateraufführungen, bei denen er „natürlich die Leitung“ hat. Und hier zeichnet Uly — wie er sich damals noch schreibt - als „dankbarer Sohn“. Doch schon bald beginnt sich der Schüler über den „Kommunismus“ Gedanken zu machen, er hat soeben einen Roman von Upton Sinclair gelesen, „Der Sumpf“ — ein Buch, durch das man „sofort zum radikalsten Kommunisten werden kann ... Im großen ganzen hat .“ Er bittet die Eltern um weitere Bücher aus dem Malik Verlag, die sie ihm wohl nicht mich der Sumpf ziemlich mitgenommen ..