ohne eine gewisse Sorge schicken, denn die politische Situation,
in der sich Deutschland im Jahr 1924 befindet, ist hochbrisant,
die junge Weimarer Republik kämpft um ihr Überleben, und die
Wellen der radikalen Bewegungen und revolutionären Umtriebe
haben offensichtlich auch die idyllische Schulgemeinde erfasst. Schon
bald muss Uly seine Eltern beruhigen, es drohe ihm keineswegs der
Rausschmiss aus der Schule, vom „Ausharren bis zur nahen Erlösung“
könne keine Rede sein. Solche Sätze brächten ihn zum „Halbtotlä¬
cheln“. Der Sechzehnjährige nimmt sich in diesen Briefen einiges
heraus, die Rolle des dankbaren Sohnes hat er vorerst abgestreift,
und er beschreibt sich als ziemlich unbürgerlichen Menschen, der
inzwischen in seiner Schule zum „Sexualforscher“ geworden sei.
Sechzig Prozent der Lehrerschaft sei nämlich homosexuell, wie der
Junge mit kritischem Unterton feststellt.
1928 macht Uli in Wickersdorf sein Musikabitur und kehrt nach
Berlin zurück, wo er auf Wunsch des Vaters, der sich äußerst er¬
folgreich auf Scheidungsrecht spezialisiert hat, ein Jurastudium
aufnimmt. Der Lebensstil der Eltern hat inzwischen großbürger¬
lichen Zuschnitt, man hat einen Luxuswagen mit Chauffeur, meh¬
rere Angestellte und unternimmt ausgedehnte Reisen in die Welt.
Obschon Uli gern an diesem Leben partizipiert und eine Zeit lang
einiges Vergnügen an der Rolle des Sohns aus reichem Hause findet
— er fährt einen schnittigen Zweisitzer, spielt Tennis und Golf —,
auf die Dauer scheint ihm diese Existenzweise nicht zu behagen.
Er hat andere Pläne, künstlerische Ambitionen, und alle Versuche,
ihn in eine geordnete bürgerliche Laufbahn zu lenken, scheitern
von Beginn an. Auch die Haltung der Eltern den Ambitionen ihres
Sohnes gegenüber ist zumindest zwiespältig, künstlerisches Talent
wird in diesem Haus, in dem berühmte Künstler aus- und eingehen,
durchaus geschätzt, und dass Uli von George Grosz, dem berühmt¬
berüchtigten Karikaturisten der deutschen Nachkriegsgesellschaft,
als einziger Schüler aufgenommen wird, hat zweifellos Eindruck
gemacht. Auch werden Uli die Gegensätze zwischen seinem Vater
und seiner Mutter nicht entgangen sein: der staatskonforme, auf
Rechtschaffenheit und „Härte im Lebenskampf“ pochende Vater
(der selbst eine poetische Ader hatte und Gedichte verfasste) und
die für die Moderne aufgeschlossene Mutter, die auch in politischen
Belangen mit der Avantgarde liebäugelt und bei den Wahlen zu¬
weilen der Kommunistischen Partei ihre Stimme gibt. Als Samm¬
lerin von Bildern der Moderne zeigt sie beachtliches Geschick, so
hängen neben den Bildern von Grosz auch bald Nolde, Pechstein
und August Macke an den Wänden der herrschaftlichen Wohnung
an der Bundesallee. Der Umgang mit diesen Eltern verlangt ein
gewisses Feingefühl, das Uli wohl nicht immer aufgebracht hat,
es kommt zu schrecklichen Szenen, während derer Mutter Elise
hysterische Zusammenbrüche erleidet. Uli muss sich dann wieder
wortreich entschuldigen, aber verziehen wird ihm immer. Die Briefe
aus dieser Zeit, Ende der zwanziger Jahre, dokumentieren die takti¬
schen Spiele, zu denen sich Uli gezwungen sieht, um einerseits die
dringend benötigten finanziellen Zuwendungen nicht zu verlieren,
andererseits sich den nötigen Freiraum als Künstler, Schriftsteller
und Zeichner zu verschaffen Eine Haltung, changierend zwischen
reuevoller Einsicht und selbstbewusster Distanziertheit, nassforscher
Unverschämtheit und Selbstzerknirschung. Ein geordnetes Studium
= i Sh: * 5
Ulrich Becher: ,,Familienbild“ der Bechers auf dem fliegenden Teppich, Berlin
1928/29 — Vater Richard, Ulrich selbst, Mutter Elise, Bruder Rolf. — Eine Ausstellung
der Bilder Bechers wird in der Galerie Fichtegasse 1, 1010 Wien, vom 11. November
— 12. Dezember 2010 stattfinden.
gehören nicht in seinen Lebensentwurf: Die Briefe, in denen Uli
gegeniiber seinem Vater die Absenzen bei Vorlesungen an der Uni
verteidigt und sich selbst im Verhältnis zu anderen Studenten als
beispielhaft gewissenhaften Studenten darstellt, entbehren nicht
einer gewissen Komik.
Merkwürdig fremd sind sich die Eltern und ihr Sohn Uli. Nie
kommt zwischen ihnen das Gefühl auf, vom selben Schlag,, ge¬
nau genommen auch nur blutsverwandt zu sein. Uli spielt mit
dem Gedanken, er sei bei der Geburt im Spital vertauscht worden.
Tatsächlich haben er und seine Eltern schon äußerlich wenig Ähn¬
lichkeit, im Gegensatz zu ihnen ist er großgewachsen, etwa 180 cm,
hat pechschwarzes Haar und einen dunklen Teint. Auch in seinem
aufbrausend-cholerischen Temperament unterscheidet er sich von
seinem vornehm zurückhaltenden Vater und seiner kultivierten,
etwas snobistischen Mutter, höchstens die Familiengeschichte der
Ulrichs — in früheren Jahrhunderten waren viele von ihnen Söldner
in fremden Heeren gewesen — lässt sich zur Erklärung von Ulis
Temperament herbeiziehen. Er selbst spricht oft von zwölf Ulrichs,
die allein in der Schlacht bei Marignano gefallen waren. Die Lust,
mit der er in der Zeit vor der Hitlerschen Machtergreifung sich in
Saalschlachten mit SA-Leuten und Prügeleien mit NS-Studenten
an der Universität stürzt, lässt etwas von dieser Kriegermentalität
erahnen. Sie hat bei ihm jedoch eine rein individualistische Aus¬
prägung, vom „Dienst an der Waffe“, sei es in regulären Armeen
oder in Bürgerkriegsparteien, konnte er sich zeitlebens fernhalten.
Das Berlin der späten zwanziger Jahre, die Roaring Twenties,
den Aufstieg Brechts, das Theater Piscators — das alles erlebt Uli
als Newcomer am Rande mit. Sein Lehrer Grosz, zu dem er bald
ein freundschaftliches Verhaltnis entwickelt, bringt ihn mit dem
Verleger Ernst Rowohlt in Kontakt, der 1932 den ersten Erzäh¬
lungsband „Männer machen Fehler“ herausbringt. Doch zunächst
setzt Uli in Genf sein Jurastudium fort, beteuert, wie „jungfräulich
und zurückhaltend“ er dort lebe, beklagt gleichzeitig diese Existenz
als „junggeselliger Student“, abhängig vom „Wechsel aus des Vaters
Tasche“.