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Erzwungene Emigration — ein Wanderleben Mit der erzwungenen Emigration 1933 wird ein neues Kapitel in der Beziehung zu den Eltern aufgeschlagen: sozusagen über Nacht ist Richard Becher zum Rentner geworden. Das kommende Unheil voraussehend, hat er große Teile seines Vermögens rechtzeitig ins Ausland, in die Schweiz und die USA, transferiert, was ihm für die folgenden Jahre der Emigration Unabhängigkeit und relativen Wohlstand sichert. Für Uli bedeutet die anbrechende Naziherrschaft das frühe Ende seiner schriftstellerischen Karriere. Sein Erstling, der Erzählband „Männer machen Fehler“ wird verboten und in einer späteren Aktion verbrannt. Verunmöglicht wird durch die Zeitumstände freilich auch die Fortsetzung seines Jurastudiums, und damit ist auch der Traum des Vaters, Uli könnte einmal seine Anwaltssozietat übernehmen, geplatzt. So verheerend und verzweifelt die Situation für alle Nazigegner und rassisch Verfolgten auch ist, für Uli bedeutet sie eine Befreiung von vielen Zwängen. Die erzwungene Emigration erlaubt ihm das seinem unsteten Naturell zutiefst gemäfße Wanderleben. Ein Wanderleben, das freilich nur durch die Zuwendungen der Eltern ermöglicht wird, und für die folgenden Jahre wird diese finanzielle Abhängigkeit zum Hauptmotiv und Kernpunkt des Briefwechsels zwischen Uli und seinen Eltern. Man darf ruhig behaupten, dass ohne diese Abhängigkeit nicht ein Bruchteil dieser Korrespondenz entstanden wäre. Weder wäre Uli als unabhängiger junger Mann vermutlich ein solch fleißiger Verfasser von Briefen an die Eltern geworden, noch hätten sich diese das Recht zur ständigen Bevormundung herausgenommen. Was da an Beratung, Kritik, Vorwürfen auf den jungen Autor herabprasselt, wirkt auf heutige Leser geradezu unerträglich. „Ich muss Vater ohnehin ausführlich schreiben, Rechenschaft ablegen, die Angelegenheit klären, du wirst das sicher mitlesen“, schreibt der Vierundzwanzigjährige an seine Mutter Elise. Die zum Pensionistendasein gezwungenen Eltern haben nun alle erdenkliche Zeit und Muße, sich über die Entwicklung ihres Sohnes Gedanken zu machen. Und ihre Sorge ist durchaus berechtigt, denn von jeglichen Einkommensmöglichkeiten abgeschnitten, müssen sie um den Erhalt ihres Vermögens kämpfen. Nicht nur Uli braucht ihre Unterstützung, ihr jüngerer Sohn Rolf ist noch in Ausbildung, er besucht das vornehme und kostspielige Internat in Zuoz. So wohlwollend sie auch gegenüber allen schriftstellerischen Ambitionen Ulis sind — im Jahr 1936 wird Ulis erstes "Theaterstück, das Christusdrama „Niemand“, am Stadttheater in Bern aufgeführt; im Zürcher Oprecht Verlag erscheint 1936 sein 36 ZWISCHENWELT zweiter Erzählband „Die Eroberer“-, so beharrlich ermahnen sie ihn zum selbständigen Broterwerb. Seit dem Jahr 1932 hat Uli eine Verbündete in der Auseinandersetzung mit seinen Eltern. Er befreundet sich mit einer Studienkollegin, Dana, der Tochter Roda Rodas. Sie sind fast gleichaltrig und kommen zwar aus sehr verschiedenen Elternhäusern, doch über alle biographischen und charakterlichen Verschiedenheiten hinweg, zeigen die Lebensläufe ihrer Eltern eine auffallende Parallelität. Beider Väter entstammen jüdischen Familien, sind in den östlichen Gebieten des wilhelmischen bzw. habsburgischen Reiches geboren und haben sich zielstrebig aus ärmlichen Familien emporgearbeitet. Ihre Mütter kamen aus alteingesessenen katholischen bzw. protestantischen Familien. Beide Eltern haben ihre Kinder christlich taufen lassen, lebten in den zwanziger Jahren in Berlin, und sowohl Ulis als auch Danas Vater Roda Roda verdienten viel Geld in ihren Berufen, hatten ein sicheres Gespür für die nahende Katastrophe und verließen Deutschland, bevor sich die Grenzen schlossen. Dana wird in den folgenden Jahren der Emigration — und schließlich bis an sein Lebensende — Ulis Gefährtin auf seinen Irrfahrten durch Österreich und die Schweiz. Zwischen Zürich, wo die Eltern Becher sich eine Wohnung nehmen, und Wien, später Graz, wo Roda Roda sein Refugium bezicht, beginnt ein ständiges Reisen des jungen Paares. Auf dringenden Wunsch von Danas Vater haben sie im November 1933 in Wien geheiratet. Nur selten setzt sich Dana ab, um einige Zeit bei ihren Eltern zu verbringen, meist ist sie an Ulis Seite, im ständigen Wechsel der Aufenthaltsorte, Gasthöfe, Hotels und Pensionen. Die Briefe legen davon Zeugnis ab, bilden ein Protokoll dieses unsteten Lebens, sie berichten aber auch von realen oder eingebildeten Krankheiten, die Uli von Ort zu Ort treiben. Grundkrankheit ist das so genannte „Heufieber“, ein von Asthma begleitete Heuschnupfen, der Uli jeweils im Frühjahr zu Reisen ins Engadin und seine pollenarme Luft zwingt. Hier, „in der gedankenmachenden Sphäre“, kann Uli gut schreiben, und die Aufenthalte dauern oft bis in die Sommermonate hinein, bis Temperaturstürze mit einhergehenden „Rippenfellschmerzen“, Bronchitis oder Lungenentzündung wieder ein milderes Klima, etwa das Tessin oder das Ufer des Vierwaldstättersees ansteuern lassen. Lästige Begleiterscheinung sind auch Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, oder der so genannte „Türligieger“ — ein Schwyzer Dialektwort für Durchfall. Es sind diese Krankenberichte, mit denen Uli seinen Eltern gegenüber den ständigen Ortswechsel rechtfertigt. Er stößt damit nicht auf taube Ohren, die Eltern sorgen sich um seine Gesundheit, mahnen einen gesunden Lebenswandel an, empfehlen vor allem den Verzicht auf Alkohol und Nikotin, was Uli wiederum veranlasst, sich allzu große Einmischung zu verbieten. Danas Verhältnis zu Ulis Eltern scheint dabei nicht das Beste gewesen zu sein. Uli muss sie offensichtlich ihnen gegenüber häufig verteidigen, ja, er sei „zwar nicht die Freundschaft, aber diese Ehe zu eurer Beruhigung über mich eingegangen“. Aber gerade zur Beruhigung von Richard und Elise führt die Beziehung eben nicht, im Gegenteil, schen sie sich in ihrer Erwartung enttäuscht, eine Eheschließung würde zu einem gefestigten Lebenswandel bzw. zu einer regelmäßigen Berufstätigkeit ihres Sohns führen. Dana lebt wie Uli von den Zuwendungen ihres Vaters und begreift sich sehr bald hauptberuflich als „Frau eines Schriftstellers“. Dana wisse, schreibt Uli, „dass man diesen lächerlich hysterischen, gottgeschlagenen Geschöpfen, halt den Dichtern, mit Nachsicht und Güte begegnen