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muss“. Damit ist das Programm für die folgenden Jahrzehnte eines Lebens an seiner Seite formuliert und das Szenario geschrieben. Es wird sich daran nicht viel ändern. Es sind jedoch glücklicherweise nicht nur Krankheitsberichte und die Geldsorgen, um die sich diese Korrespondenz dreht, es lässt sich durch sie auch ein Einblick in die Situation der Emigranten während der dreißiger Jahre in der Schweiz gewinnen. Dank seiner Schweizer Mutter kann sich Uli im dem Land verhältnismäßig frei bewegen, und er zeigt im Umgang mit den Behörden große Sorglosigkeit. Er versäumt Meldepflichten, kommt Vorladungen nicht nach. Als Retter in der Not erweist sich öfters der „Vetter Rickenbach“, ein Verwandter der Mutter, Oberst in der Schweizer Armee, der allerdings, nachdem er das Christusdrama „Niemand“ im Theater gesehen hatte, gesagt haben soll: „Solange der Uli solche Stücke schreibt, kann er nicht Schweizer werden.“ Die Kontakte zur mütterlichen Familie in der Innerschweiz werden in diesen Jahren immer wichtiger. Die Schilderung eines „dörflichen Ballvergnügens“ in dem Dorf Steinen zeigt Uli in einer seiner seltenen glücklichen und entspannten Momente. Stolz berichtet er seiner Mutter, er habe seit Jahren zum ersten Mal wieder Geige gespielt. „Dort hat sich nicht viel verändert in hundert Jahren“, notiert er nicht ohne Wehmut. „Das Land ist erledigt“ — Österreich 1938 Die Briefe zeigen Uli aber auch als unnachsichtigen Kritiker jener sich in der Schweiz während der dreißiger Jahre ausbreitenden politischen Stimmung - der in gewissen Zeitungen und bei einigen führenden Journalisten sich abzeichnenden Bereitschaft, sich Dana und Ulrich Becher in Persepolis, Brasilien. — Quelle: Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Frankfurt/M., Teilnachlass Ulrich Becher, EB 85/147. Hitlers und Mussolinis Führung einzustellen. Ganz abgesehen von der zahlenmäßig kleinen, aber lautstarken Gruppe der „Frontisten“, welche die Schweiz am liebsten gleich an Nazideutschland anschließen wollten. Wenn auch diese extreme Gruppierung nur wenige Anhänger hat, ist doch der wachsende Antisemitismus nicht zu übersehen, die Aversion gegenüber dem von den Emigranten eingeschleppten „jüdischen Geist“. Als Halbschweizer und „Halbjude“ sieht sich Uli nicht unmittelbar gefährdet — er bezeichnet sich selbst als „Demigranten“-, doch die Lebensumstände werden auch für ihn immer schwieriger. In seinem späteren Roman „Die Murmeljagd“ wird Uli ein präzises Simmungsbild der von faschistischen Staaten eingeschlossenen Schweiz geben. Auch die Briefe an die Eltern zeigen den wachen Beobachter. Sie zeigen freilich auch, dass Uli bei aller Kritik an seinem „Mutterland“ festhält, er zieht es Österreich vor, dessen Staatsbürgerschaft er mit Rodas Protektion erlangt. Wien gehört zwar zu seinen bevorzugten Standorten, doch ist es teuer, und es lässt sich dort offenbar schlechter arbeiten als in den Schweizer Bergen. Zeitweise verschlägt es Uli und Dana auch nach Paris, aber dort lässt es sich schon gar nicht arbeiten. Prag, Graz, Innsbruck sind weitere Stationen dieser „Errance“ vor der immer bedrohlicher werdenden Kulisse eines in den Weltkrieg trudelnden Europas. Aus Österreich berichtet Uli im März '38: „Das Land ist erledigt, Heilrufe, Hakenkreuze, Massenwahnsinn überall ... Europäischer Weisheit letzter Schluss bleibt, wohl oder übel, die Schweiz.“ Einen Tag vor dem „Anschluss“ kommen Uli und Dana mit dem letzten die Grenze frei passierenden Zug in die Schweiz. Die Rodas haben sich bereits einen Tag zuvor über die Grenze in Sicherheit gebracht. Zurück in der Schweiz, unter dem Eindruck des nahenden Krieges, und der durch Berufsverbot und den Druck der Schweizer Behörden immer unausweichlicher scheinenden Emigration nach Übersee, verändert sich der Ton in diesen Briefen. Uli bleibt zwar nach wie vor der Bedürftige und oftmals Kränkelnde, auch schreibt er scheinbar zerknirscht von seinem „zuzeiten wüsten Naturell“ — was sich vermutlich auf einen der wiederholten Kräche mit seinen Eltern bezieht —, doch mehr und mehr sorgt er sich um ihre Gesundheit, rät zu Reisen, zu Kuren, zu Arztbesuchen. Aus dem ehemaligen Sorgenkind ist ein besorgter Sohn geworden, und aus den sorgengeplagten Eltern werden Eltern, die zu Sorgen Anlass geben. In die hypochondrische Aufmerksamkeit gegenüber dem eigenen körperlichen Befinden sind nun auch die Eltern und später Dana miteinbezogen. In den folgenden Jahren der Emigration, vor allem nach der Ankunft in Brasilien, wird die Hypochondrie zum immer dominanteren Wesenszug, fast scheint es, als wolle er den Verdacht mangelnder Elternliebe, dem er in früheren Jahren ausgesetzt war, durch eine geradezu hysterisch wirkende Besorgtheit ein für alle Mal ausräumen: „Es gibt kaum Wichtigeres zu bewahren als Gesundheit und kaum Wichtigeres zu verlieren ...“ predigt er seinen für selbstschädigende Lebensweise keineswegs bekannten Eltern: „Und dass die Mutter ihr Blut untersuchen lässt ... und dass sie isst, isst, isst.“ Diese Verkehrung der Rollen trägt geradezu karnevaleske Züge. Im Frühjahr 1941 gelingt Uli und Dana Becher samt Hund Paul, nach abenteuerlicher Reise über Spanien und Portugal, die Emigration nach Brasilien. Ermöglicht wird sie durch ihre Mitgliedschaft in der „Gruppe Görgen“, einer vom katholischen Politiker und Publizisten Hermann Matthias Görgen geleiteten Hilfsaktion, die den in der Mehrzahl jüdischen Flüchtlingen zu tschechoslowakischen 3/2010 37