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auch philosophische Überlegungen einbezieht. Aber eine Geschichte erzählen und zugleich ihre soziologischen, psychologischen und philosophischen Zusammenhänge zu durchleuchten: ist das nicht genau das Programm des großen realistischen Romans aus dem 19. Jahrhundert? Adler hat selbst eingeräumt, dass am Ursprung seines Iheresienstadt-Buches gleichsam die Idee eines Romans stand; natürlich wollte er das Buch selbst nicht als einen Roman verstanden wissen. Es aber, wie Franz Hocheneder vorschlägt, als ein sprachliches Kunstwerk neu zu lesen, würde heißen, es wieder mit der ursprünglichen Idee des Autors in Verbindungzu bringen. So könnte man, auch allgemein die Kunst der Prosa diesseits von Fiktionen betreffend, zu überraschenden neuen Einsichten kommen. Brief Zu „Raserei der Sorge“ von Konstantin Kaiser, ZW Nr. 3-4/2009, S. 33-15: Mit großem Interesse habe ich Konstantin Kaisers „pessimistische Skizze“ im Dezemberheft 09 gelesen, über die „Zerstörung der Gegenwart durch die Raserei der Sorge“. Und über das Verlieren des Lebens durch die Gier nach Vorsorge. Ich kann und will mich hier nicht mit dem als Ergebnis des CanettiSymposiums 2008 erschienenen Band „Globalisierung. Die hysterische Vermehrungsmeute“ beschäftigen, in dem Kaisers Beitrag ebenfalls erschienen ist. Nur einige Gedanken und Anmerkungen zu seinem Vortrag liegen mir auf der Zunge. Zunächst ist einerseits der pessimistischen Sicht auf den Zustand und die Zukunft der westlichen Gesellschaften zuzustimmen, deren miese Aussichten nicht zufällig durch die immer hysterischer vorgebrachten und immer unglaubwürdiger werdenden Zukunftsverheißungen kontrastiert werden. Zugleich erscheint es fraglich, ob die dargestellten ideologischen Mechanismen tatsächlich auf die von Kaiser beschriebene Weise funktionieren. Das fängt schon bei Goethe an: Die „Sorge“ ist dort eine der vier „grauen Weiber“. Die anderen drei sind „Schuld“, „Mangel“, und „Not“. Diese drei können den Raum nicht betreten, weil: „Drin wohnt ein Reicher“. Weshalb die Sorge feststellt: Ihr Schwestern, ihr könnt nicht und dürft nicht hinein Die Sorge, sie schleicht sich durchs Schlüsselloch ein. 60 _ ZWISCHENWELT Adler hat sich immer dagegen gewehrt, auf den Theresienstadt-Adler reduziert zu werden, ersah in dieser Bezeichnung eine Missachtung seiner belletristischen Arbeiten. Auch Hocheneder vertritt diesen Standpunkt. Es ist aber so, dass Adler in Iheresienstadt die Gewissheit seiner künstlerischen Aufgabe gewonnen hat, alles, was erzuvor geschrieben hatte, war Übung. So ist Theresienstadt der letzte Bezugspunkt aller Arbeiten Adlers. Man sollte das Adlersche Werk ausgehend von dieser Mitte her und auf sie hin rezipieren. Franz Hocheneder macht damit einen hoffnungsvollen Anfang. Matthias Fallenstein Franz Hocheneder: H. G. Adler (1910-1988). Privatgelehrter und freier Schriftsteller. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2009. 403 S. mit Abb. Euro 39,00 Faust hingegen stellt sich mit dem Selbstbewusstsein des zuversichtlichen Bürgers hin und verkündet: Er stehe fest und sehe sich hier um; Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen! Was er erkennt, lässt sich ergreifen. Er wandle so den Erdentag entlang; Wenn Geister spuken, geh er seinen Gang, Im Weiterschreiten find er Qual und Glück, Er! Unbefriedigt jeden Augenblick. Als im Frühjahr 2009 „derStandard.at“ eine mehrere Monate laufende Serie über „Die Welt in 20 Jahren“ startete und die damalige Siemens-Österreich-Chefin Brigitte Ederer interviewte, war ihre zentrale Aussage durchaus faustisch: „Die Wahrheit aber ist: die Chancen müssen von den Menschen genutzt werden.“ Naturgemäß ist bei ihr nicht die Rede von Chancen für Muße, Gerechügkeit oder ein gutes Leben, sondern von Chancen auf den Maximalprofit, auf neue Märkte, auf Niederringung des Konkurrenten. Und weil diese Hetzjagd nie ein Ende haben darf und kann, bleiben deren Akteure somit „unbefriedigt jeden Augenblick“. Ich zweifle daher daran, dass man tatsächlich von WIR reden kann, wenn die herrschende Ideologie wie von Kaiser untersucht wird: „Interessant ist die Beobachtung, dass wir schon fast zwei Jahrzehnte in einer Zeit des raschen Wechsels zwischen tiefer Krisenangst und stets neu geweckter Zuversicht leben (...) In dieser Zeit ist es gelungen, die Mehrzahl der Individuen zur Vorsorge zu erziehen, zum Abschluss von Lebensversicherungen, zur Einzahlung in Pensionskassen ..., also in einen unersättlichen Kreislauf von Absicherungen zu ziehen.“ Denn die Täter, denen „es“ gelungen ist, haben „Name, Anschrift und Gesicht“, wie Brecht einmal schrieb. Vom entsprechend finanzierten Propagandaterror abgesehen passierte dies nämlich nicht zuletzt auch durch staatlichen Zwang. Z.B.: „Abfertigung neu“ — also das in Kapitalgesellschaften ausgelagerte Ansparen von Abfertigungsanspriichen; das Auslagern von Betriebspensionszusagen in neu geschaffene Pensionskassen mit entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen; den Kahlschlag bei den Verbeamtungen (und damit dem entsprechenden Wegfall von Sicherungen!); dem gesetzlichen Rahmen für die massive Ausweitung des Heers von „geringfügig Beschäftigten“, das zugleich die Sozialversicherungssysteme aushungert, u.v.a. Von all diesen Maßnahmen wurde die „Kapitalisierung der Vorsorge“, von der Kaiser zurecht spricht, aufgeblasen. Das übrige durch entsprechende Propaganda lukrierte Sparvermögen nimmt sich da vergleichsweise bescheiden aus. Weswegen das Resultat auch in erster Linie ideologisch katastrophal ist. Und schließlich: Die fallweise „Zuversicht“ gabs und gibt's in erster Linie bei den Geldleuten und Abcashern. Bei den übrigen Menschen war die um und durch 1989/90 gepuschte schon nach einem Jahr verraucht. Übrigens ist mir beim Blick in den Faust das Ende eingefallen: eines anderen ‘Theaterstiicks Estragon: Gehen wir! Sie gehen nicht von der Stelle. (Samuel Beckett, Warten auf Godot) Karl Wimmler, 7. August 2010 Ich kann Karl Wimmler nur Recht geben. Nur glaube ich, daß sich die notwendigen Differenzierungsprozesse nicht im Gegensatz von „Abcashern“ und Abgecashten resümieren. Deshalb erlaube ich mir von einem „Wir“ zu sprechen, einem Passepartout, in das jede oder jeder seinen Kopf stecken mag. Mir geht es um Spezifisches — den dramatischen Verlust von Gegenwart. K.K. Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands. Jg- 27, Nr.3, November 2010. Eigentümer, Verleger: Theodor Kramer Gesellschaft, 1020 Wien, Engerthstr. 204/14, office@theodorkramer.at. ISSN 1606-4321. Erscheinungsort Wien, Verlagspostamt 1210 Wien. Pb.b. Zulassungsnr. 02Z030485 M.