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Christiana Puschak Die Dinge, die mein Vater schätzte und achtete, waren: der Sozialismus, England, die Romane von Zola, die Rockefeller-Stiftung und die Bergführer des Aostatals. Die Dinge, die meine Mutter liebte, waren: der Sozialismus, die Gedichte von Paul Verlaine, die Musik und speziell Lohengrin, lässt uns Natalia Ginzburg in ihrem mit dem Premio Strega ausgezeichneten Hauptwerk Familienlexikon wissen, einem Porträt ihrer Familie, ihrer Kindheit und Jugend, Italiens sowie der Persönlichkeiten des intellektuellen Milieus Turins. Am Jahrestag des Sturms auf die Bastille wird sie 1916 als Nachzüglerin vier älterer Geschwister der jüdischen Familie Levi in Palermo geboren. Wenige Jahre später übersiedelt die Familie nach Turin, da ihr Vater als Anatomieprofessor einen Ruf an die Universität erhalten hat. Bereits als Siebenjährige erfährt sie, was Sozialismus bedeutet, nämlich „Gleichheit der Güter und Gleichheit der Rechte fiir alle“ — eine Idee, die sie damals noch nicht ganz versteht, aber fiir sich ihr Leben lang bewahrt. Und sie erlebt, wie sich die Familie gegen den Faschismus erhebt und ihr Vater und ihre Briider wiederholt wegen „regimefeindlicher Aktionen“ ins Gefängnis müssen. Überschattet ist ihre Kindheit von lautstarken Auseinandersetzungen innerhalb der Familie sowie einem Gefühl des eigenen Außenseitertums. Weder darf sie die Schule - sie erhält Privatunterricht — noch die Synagoge besuchen. Ihre Mutter, gebürtige Katholikin, lehnt wie die anderen Familienmitglieder die Institution Kirche ab: „Wenigstens eine Religion hätte sie gerne gewollt“. Auf dem Gymnasium — nun unter anderen Kindern - beschließt sie, „Jüdin“ zu sein, was ihre Mutter als „Pathos“ abtut. Für die inzwischen Zwölfjährige klingt dies wie eine Krankheit. Früh sucht sie die Bücher als ihre Freunde auf und beginnt erste Gedichte zu schreiben. 1938 heiratet sie den Dozenten für russische Literatur und Widerstandskämpfer Leone Ginzburg, der zu den engsten Mitarbeitern des 1933 gegründeten Einaudi-Verlags und zu den wenigen Hochschullehrern zählt, die sich weigern, den faschistischen Eid abzulegen. Durch das faschistische Regime wird er 1940 nach Pizzoli in den Abruzzen verbannt. Natalia folgt ihm mit ihren zwei Kindern; ein drittes wird dort geboren. In der Erzählung Winter in den Abruzzen schildert sie die Jahre des Exils, einer Zeit, in der es Worte gegen die Kälte gab: Das war die beste Zeit meines Lebens, aber erst jetzt, da sie mir fir immer entglitten ist, erst jetzt weiß ich es. Die Nachricht vom Sturz Mussolinis 1943 bewegt Leone nach Rom zu fahren, um von dort aus die Errichtung einer Republik zu unterstützen. Als deutsche Truppen in Italien einmarschieren, wird Leone verhaftet, gefoltert und im Gefängnis ermordet - ein traumatisches Erlebnis für Natalia Ginzburg: Beim Gedanken an diesen grauenvollen, einsamen Tod, an die Ängste, die ihm vorausgingen, frage ich mich, ob dies uns wirklich zugestoßen ist. Von einer Psychoanalyse erhofft sie sich Linderung ihrer Schmerzen: Ich hätte mich fühlen müssen wie eine Kranke beim Arzt. Aber ich fühlte mich nicht krank, nur voll dunkler Schuld und Verwirrung. Ihres Mannes gedenkt sie mit einem lyrischen Epitaph: 8 _ ZWISCHENWELT Memoria Die Menschen kommen und gehen auf den Straßen der Stadt. Sie kaufen Nahrungsmittel und Zeitungen, haben verschiedene Dinge vor. Ihre Gesichter sind rosig, die Lippen lebhaft und voll. Du hobst das Laken, um sein Gesicht zu betrachten, Beugtest dich hinunter, um es mit gewohnter Geste zu küssen. Aber es war das letze Mal. Es war das gewohnte Gesicht, Nur ein wenig müder: Und der Anzug war derselbe wie immer. Und die Schuhe waren dieselben wie immer. Und die Hände waren dieselben, Die das Brot brachen und den Wein eingossen. Noch heute, während die Zeit verstreicht, hebst du das Laken, Um sein Gesicht zum letzten Mal zu betrachten. Wenn du auf der Straße gehst, ist niemand neben dir. Wenn du dich fürchtest, nimmt niemand deine Hand. Und die Strafe ist nicht deine, die Stadt ist nicht deine. Die erleuchtete Stadt ist nicht deine, die erleuchtete Stadt gehört den anderen. Den Menschen, die kommen und gehen, Nahrungsmittel und Zeitungen kaufen. Du kannst ein wenig an stille Fenster treten, Und schweigend den Garten im Dunkel betrachten. Früher war da, wenn du weintest, seine heitere Stimme. Früher war da, wenn du lachtest, sein gedämpftes Lachen. Aber das Gartentor, das sich am Abend öffnete, wird für immer geschlossen bleiben, Und verwüstet ist deine Jugend, erloschen das Feuer, leer das Haus. Faschismus, Judenverfolgung, Verbannung, Krieg, diese düsteren „Quellen der Erinnerung“, wie Einsamkeit und Unfähigkeit der Menschen zur Kommunikation bilden den Stoff ihrer Romane, Erzählungen und Theaterstücke: Mein Beruf ist es Geschichten zu schreiben, ... Dinge aus meinem Leben, ... Dinge, bei denen nicht die Bildung, sondern nur Gedächtnis und Phantasie eine Rolle spielen. Im Familienlexikon thematisiert sie diese bitteren Erfahrungen. Als Oriana Fallaci eines Tages wegen eines Interviews an Natalias Wohnungstür klingelt, sieht sie nach dem Öffnen der Tür in ein angespanntes Gesicht, „das Gesicht aller Juden, die den Schrecken der Türklingel kennengelernt haben.“ Nach der Befreiung Italiens vom Faschismus, „nach all den Jahren, in denen es schien, als wäre die Welt verstummt und versteinert“, arbeitet sie als Lektorin beim Verlag Einaudi, bei dem auch Carlo Levi, Italo Calvino, Elio Vittorini, Cesare Pavese in der Turiner Tradition eines kämpferischen Liberalismus wirken. Ihre Aufgaben als „kritisches Gewissen des Verlags“ erledigt sie „in fliegender Hast, eingetaucht in totale Isolation und vollkommenes Schweigen“. Sie zieht ihre Kinder auf und hilft den Nachholbedarf an ausländischen Büchern zu schließen. Proust, Flaubert und Maupassant übersetzt sie ins Italienische. 1950 heiratet sie Gabriele Baldini, Professor für englische Literatur in Rom sowie Leiter des Italienischen Kulturinstituts in London, und übersiedelt nach Rom: „Was ich liebte, war der Verlag ... Ich liebte, im Verlag, meine Arbeitsgefährten: diese, und keine anderen.“ In Rom eröffnet