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Lotte Brainin Die vier Heldinnen von der „Union“ Lotte Brainin wurde 1920 als fünftes und jüngstes Kind von Jetti (Ite Beile) und Mauricy Sontag 1920 in Wien geboren. Sie ist die Schwester Claire Felsenburgs, die in ihrem Erinnerungsbuch „Flüchtlingskinder“ (2002) die Flucht der Familie 1914 von Lemberg nach Wien und das Leben der an die 25.000 armen, oft staatenlosen „Galizianer“ im Wien der Zwischenkriegszeit schildert. Es war die Mutter, die die Familie durch Näharbeiten notdürftig er- und zusammenbielt. Lotte besuchte die Volks- und Hauptschule in Wien-Alsergrund und kam durch ihren ein Jahr älteren Bruder Eli zu den Roten Falken. Nach dem Februar 1934 blieben die beiden Geschwister weiter aktiv in der illegalen sozialistischen und später kommunistischen Jugendorganisation. Aufgrund der herrschende Arbeitslosigkeit konnte sie keinen Beruf‘ erlernen und mujfste froh sein, als Hilfsarbeiterin in einer Schuhfabrik eingestellt zu werden. Nach der Besetzung Österreichs durch Nazideutschland flüchtete sie mit einer Freundin nach Belgien, wo sich ihre beiden Brüder bereits befanden. Mauricy Sontag, der Vater, wurde im Oktober 1939 ins Nazi-KZ Buchenwald deportiert und dort im Februar 1941 ermordet. Die Mutter kam nach Kriegsausbruch illegal ins neutrale Belgien. Nach der Besetzung Belgiens durch Nazideutschland im Mai 1940 flüchteten die beiden Brüder in das noch unbesetzie Frankreich. Lotte schloß sich in Brüssel einer österreichischen Widerstandsgruppe an und lebte getrennt von der Mutter, um sie nicht zu gefährden. Ite Beile Sontag wurde im April 1944 vom SS-Sammellager Malines (Mecheln) nach Auschwitz deportiert und nach ihrer Ankunft ermordet. Lotte wurde 1943 von der Gestapo verhaftet und nach siebenmonatiger Haft im Jänner 1944 nach Auschwitz-Birkenau und von dort im Jänner 1945 ins KZ Ravensbriick tiberstellt. Am 6. Jänner 1945 hieß es nach dem Abendappell und vor dem Einrücken in die Fabrik zur Nachtschicht: „Alle Antreten!“ Wir mußten mit anschen wie Ala Gertner und Regina Saphirsztain von den SS-Leuten erhängt wurden. Nach der Rückkehr der Tagschicht mußte auch diese zum Appell antreten und zusehen, wie Rosa Robota und Esther Weisblum ebenfalls am Galgen von den SS-Leuten ermordet wurden. Wenige Tage vor der Flucht der SS-Wachmannschaften vor den heranrückenden sowjetischen Soldaten und der Auflösung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau rächte sich die SS an den vier Heldinnen, die durch ihren Mut und ihre Geschicklichkeit den Aufstand des Sonderkommandos ermöglicht hatten. Monate hindurch hatten die Mädchen Sprengstoff aus der Pulverkammer der Fabrik „Weichsel-Metall-Union“, einer der vielen Fabriken, die von der deutschen Kriegsindustrie rund um das Konzentrationslager Auschwitz errichtet worden waren, in kleinsten Mengen und unter Mithilfe vieler dort beschäftigter Frauen und Mädchen herausgeschmuggelt. Der Sprengstoff ging durch viele Hände, oft ohne daß die Beteiligten wußten, was in den winzigen Päckchen enthalten war. Sie beförderten die Päckchen versteckt in den Knoten der Kopftücher und auf andere Weise. Der Sprengstoff gelangte in die Kleiderkammer, wo Rosa Robota arbeitete. Von dort wurden die winzigen kleinen Mengen Sprengpulver zu den Männern des Sonderkommandos weitergereicht, die daraus Sprengkörper herstellten. 10 ZWISCHENWELT Das Netz dieser jüdischen Widerstandsgruppe spannte sich von der Munitionsfabrik bis zum Sonderkommando, das bei den Krematorien arbeitete. Mit ihrem Aufstand, der auch ihnen das Leben kosten würde, wollten die Männer die Krematorien zerstören, um das weitere Massenmorden zu unterbinden. Ich selbst arbeitete in der „Union“ in der Kontrollabteilung. Es war ein langer und qualvoller Weg, der mich von Wien über die Flucht nach Belgien, kurz nach der Besetzung Österreichs durch die Deutschen, bis hierher nach Auschwitz brachte. Aus Wien mußte ich so rasch wie möglich weg, da ich bereits als 15-Jährige, bei einer illegalen Zusammenkunft im Jahre 1935 verhaftet und als Rädelsführerin zu drei Wochen Polizeiarrest verurteilt worden war. Diese drei Wochen mußte ich im Polizeigefängnis Elisabethpromenade, bekannt als „Liesl“, absitzen. Dorthin wurde ich von der Zelle im Polizeikommissariat Boltzmanngasse gebracht. Meine Kameraden in Wien rieten mir, aus dem von den Deutschen besetzten Österreich so rasch wie möglich zu verschwinden, da ich als Jüdin und polizeibekannte Antifaschistin doppelt gefährdet war. In den vergangenen Jahren hatte mich die Polizei jeweils zum 12. Februar geholt, um mich für einen Tag und eine Nacht in Gewahrsam zu nehmen. Meine Jugendfreunde Fritzi Mutzika und Fredi Rabovski, sie wurden beide von den Deutschen im Jahre 1944 wegen Hochverrats geköpft, verkauften damals ihre wenigen Habseligkeiten, damit ich eine Bahnfahrkarte nach Köln kaufen konnte, da ich selbst völlig ohne Mittel war. Von Aachen mußte ich illegal über die Grenze nach Belgien. In Brüssel fand ich rasch Kontakt zu den österreichischen politischen Flüchtlingen. Bald hatten wir eine antifaschistische Jugendgruppe und wir versuchten unter anderem, österreichische Kultur interessierten Belgiern näherzubringen. Bei unseren Zusammenkünften hörten wir Vorträge von Alfred Klahr, Albert Hirsch, Moritz Margules, Josef Sieder und von anderen. Zu unserer Jugendgruppe gehörte auch Kurt Hacker, dem ich in Auschwitz wieder begegnete. Auch Alfred Klahr trafich in Auschwitz wieder. Juci Fürst, die ich noch aus Wien kannte, gehörte ebenfalls zu unserer Jugendgruppe. Sie kam auch nach Auschwitz und mit ihr flüchtete ich schließlich kurz vor der Befreiung bei der Evakuierung von Ravensbrück zu den heranrückenden sowjetishen Truppen. Erst nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjet-Union im Jahre 1941 begann unsere Gruppe in Brüssel mit Aktivitäten gegen den Krieg, in Form von Aufklärungsarbeit mit deutschen Soldaten. Im Juni 1943 wurde ich von der Deutschen Militärpolizei verhaftet, nachdem ich einem Wehrmachtsangehörigen eine von uns verfaßte Antikriegszeitung übergeben hatte. Mit diesem Soldaten, er stammte aus Kärnten, hatte ich mich schon vorher getroffen und über die Unmenschlichkeit des Krieges diskutiert. Ich ahnte nicht, daß er mich verraten würde. Die Verhöre mit den üblichen Gestapomethoden dauerten Monate, da ich meine Kameraden nicht preisgab und auch meinen richtigen Namen nicht sagte. Durch das Geständnis einer später verhafteten Freundin wurde meine wahre Identität jedoch bekannt und aus Wien bestätigt. Während der Verhöre war ich in einer Einzelzelle im Cachot in Malines, einem Sammellager für die Deportierung der jüdischen Bevölkerung aus Belgien. In der Neben- zelle befand sich ein Wiener namens Toni Habel, der von der deutschen Armee