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desertiert war und sich als Jude ausgab. Er war bereits an der Ostfront gewesen und wollte nicht an den Greueltaten der Deutschen Wehrmacht beteiligt sein. Meine Freundinnen Herta Ligeti und Marianne Brandt waren auch im Cachot und kamen mit mir nach Auschwitz. Vor dem Abtransport aus Malines erklärte der deutsche Kommandant Boden den angetretenen Häftlingen, wir kämen in ein Arbeitslager in das nur wenige Stunden entfernte Holland. Tatsächlich landeten wir nach drei Tagen und Nächten in verschlossenen Viehwaggons, ohne jegliche hygienische Einrichtung, ohne Nahrung und Wasser in Auschwitz. So wurden auch wir wieder belogen und getäuscht. Die Szenen bei der Ankunft wurden schon oft beschrieben. Die ersten zwei Selektionen, die ich in Birkenau erlebte, waren Entscheidungen über Leben und Tod. Hätte der SSler mit dem Finger zufällig in die andere Richtung gezeigt, wäre ich in der Gaskammer gelandet, so wie Millionen andere, die ermordet wurden. Es ist nur Zufall, daß ich noch lebe. Nach dem Willen der Nazis dürfte ich als Jüdin nicht mehr am Leben sein. Bei der dritten Selektion wurde ich für die Arbeit in der Fabrik eingeteilt. In Auschwitz, in einem überdachten Raum arbeiten zu können, erhöhte ganz bedeutend die Überlebenschancen. (Damals, im Winter hatte es dort bis zu 40 Grad unter Null.) Meine Tätigkeit in der Kontrollabteilung der „Union“ bestand darin, das Gewinde von kegelförmigen Metallteilen, offenbar Granatköpfen, zu überprüfen. An einem langen Tisch waren wir ca. 25 Mädchen und Frauen, die die gleiche Arbeit zu verrichten hatten, Wir verständigten uns schr rasch, trotz der Sprachschwiergkeiten, die Arbeit zu sabotieren, indem wir gute Gewinde zum Ausschuß warfen und schlechte Gewinde zu den Guten. Viele der Mädchen waren aus den verschiedenen Ghettos in Polen nach Auschwitz gebracht worden. Andere, wie Ala Gertner oder Mala Zimetbaum, waren aus Belgien oder anderen von den Deutschen besetzten Ländern nach Auschwitz deportiert worden. Manche von ihnen hatten den Aufstand im Warschauer Ghetto miterlebt. Zu dieser Zeit bestand im Lager bereits eine illegale internationale Widerstandsorganisation und ein Häftling in unserer Fabrik, ein Spanienkämpfer aus Antwerpen namens Robert, stellte die Verbindung zur Widerstandsorganisation im Männerlager her. Kurz darauf kam Alfred Klahr, ich weiß nicht, wie lange er schon Häftling in Auschwitz war, in die Fabrik und informierte mich über die Situation in der Freiheit. Es sollte ein Aufstand, gemeinsam mit den außerhalb des Lagers operierenden polnischen Partisanen, vorbereitet werden, um aus dem Lager flüchten zu können.. Er legte uns nahe, wenn möglich, Isolierzangen zu beschaffen, um die elektrisch geladene Umzäunung durchschneiden zu können. Ebenso sollten wir Benzinflaschen zur Herstellung von Molotow-Cocktails organisieren. Durch einen Häftling, der als Installateur vom Männerlager in das Frauenlager Birkenau kam, trafen wir Kurt Hacker, der von den Deutschen ebenfalls nach Auschwitz deportiert worden war. Herta Ligeti und ich freuten uns, einen weiteren Vertrauten zu finden, doch er hatte eine sehr traurige Nachricht für mich. Mein guter Freund, Benedikt Senzer, war nicht mehr am Leben. Er war bei einer der ersten Flugzettelaktionen in Brüssel, bei einer deutschen Kaserne in Molebeck, angeschossen und verhaftet worden. Kurt erzählte, er war gemeinsam mit ihm in der Festung Breendonk, einem schrecklichen Gefängnis, wo die Häftlinge von den Deutschen grausamst gefoltert wurden. Von dort brachte man Benni in die Kohlengruben nach Monowitz, einem Außenlager von Auschwitz. Wenige Tage später wurde er in der Gaskammer ermordet. Wir baten Kurt Hacker uns eine Isolierzange zu beschaffen, was ihm auch gelang. Eine Stubowa (Stubenälteste) in unserem Block, Fanni Dutet war auch eine Vertraute unserer Gruppe. Sie konnte nicht nur die Zange, sondern auch eine Benzinflasche, die wir organisierten, versteckt aufbewahren. Für uns waren diese Gegenstände die Hoffnung auf den Aufstand. Dieser fand leider nicht statt. Zu Betty Wenz, einem Mädchen aus Wien im arischen Block, bekamen wir Kontakt durch Marie Claude Vaillant Couturier, eine französischen Kameradin. Betty war in der Schreibstube beschäftigt und hatte daher größere Bewegungsfreiheit im Lager. Durch Betty lernten wir Herta Rotowa kennen, eine Lagerläuferin, die mit Mala Zimetbaum zusammengearbeitet hat. Betty und Herta haben uns schr geholfen, beim Zusammenhalt unserer Gruppe, indem sie uns wichtige Informationen zukommen ließen und verschiedene Gegenstände verschafften. Durch ihre Funktion hatten sie Zugang zu den verschiedensten Lagerfunktionären und vielen Blocks und Kommanden. Sie waren bereit, diese Möglichkeiten für die Gruppe einzusetzen, und achteten nicht auf persönliche Sicherheit oder Vorteil. Herta, zum Beispiel, nutzte ihre Kontakte, um mich vom Unionskommando in ein anderes zu versetzen, in die Wollstube. Die Madchen an unserem Tisch hatten mich gewarnt, man munkelte bereits, daß ich einer Widerstandsgruppe angehöre. Betty wiederum hat uns bei der Evakuierung, wir waren schon Claire Felsenburgs „Flüchtlingskinder“, 2002 mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Aktionsradius Augarten erschienen; Flüchtlingskinder Erinnerungen Nachworte von Konstantin Kaiser und Robert Sommer; herausgegeben von K. Kaiser und Rosemarie Schulak. (193 S., Euro 18,-) Das Cover zeigt die Familie Sontag kurz nach der Ankunft in Wien: Clara, Jetty, Henry und Mauricy Sontag, Jänner 2012 11