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Jakob Feldhammer Urbisaglia, Sforzacosta 29.XI1.43 Lieber, bester, einziger Onkel Fred! Treuester Freund! [...] Dieser Brief an Dich soll mir ein wenig mein ach so schweres Herz erleichtern. Wenn er Dich auch jetzt nicht erreicht, so wirst Du ihn hoffentlich, wenn wieder Frieden ist, zu Gesicht bekommen und zwar als jenen Abschluss meiner Lebenserinnerungen, die mir die jüngste, grausame Wirklichkeit aufgezwungen har. Denn was dieses Dreiundvierzigerjahr seit dem achten September, dem Tage des Waffenstillstandes zwischen Amerika und Italien, mir und meinen Leidengefährten beschert hat, könnte nur die Phantasie eines Sadisten erdacht haben, wobei die Wirklichkeit noch viel sadistischer ist als alles, was je ein Menschenschädel zu erdenken imstande wäre. Durch die Hintertür meines Hotels in Calderola bin ich ohne jegliches Gepäck entflohen. Ich sollte wieder einmal verhaftet werden und zwar diesmal im Auftrage der so genannten italienischrepublikanischen Fascisten, die selbst viel zu feige, um gemeinsam mit den Deutschen an der Front zu kampfen, diesen desto bereitwilligere Henkerdienste leisten — auch gegen die eigenen Landsleute, wobei sie sich, wie Kreaturen dieser Art es an sich zu haben pflegen, sogar gegeniiber alten Mannern und Weibern nationalsozialistischer als der schlimmste SS-Mann gebärden. Wie durch ein Wunder - ich kann es kaum noch fassen, bin ich, wenigstens bis jetzt, toi, toi toi- ich klopf auf Holz -, ihren Fängen entwischt. Weitab von jeglichem Verkehrsweg sitze ich mit einem schweren Schnupfen vor einem knackenden, flackernden Kaminfeuer, der einzigen Wärmequelle eines zugigen, durchkälteten aber sonst soliden Bauernhauses. Vor mir fühle ich heiße Wärme, hinter mir rheumatische Kühle. Mit übereinandergeschlagenen Beinen, das Heft auf den Knien haltend, will ich meine letzten Erlebnisse, die mir noch in den Gliedern kleben wie hungrige Schwalbennester an Mauersimsen, fliegend niederschreiben, um wenigstens das Doppelgefühl von Wärme im Gesicht und Kälte im Rücken zu berwinden. Draußen peitscht ein Sturm, Regen und Schnee. Durchs Fenster flockt es und zuckt es grau in grau wie in mir selbst. Und doch, doch danke ich aus tiefster Herzensangst heraus meinem lieben Feldhammer’schen Gott, daß er mir vorläufig wenigstens das entsetzliche Los meiner Leidensgefährten erspart hat, nämlich in irgend einem feuchten, ungeheizten, verwanzten und verlausten Provinzgefängnis des Bezirkes Macerata auf den von uns seit Monaten wie die Pest gefürchteten Abschub nach Polen warten zu müssen, wo uns nach Willen der NSDAP, wenn nicht schon während der wochenlangen Reise ohne genügende Nahrung in einem ungeheizten Viehwagen, so doch bestimmt an der Endstation der gastliche Tod empfangen soll. Seit dem achten September werden wir von Quästur Macerata wie Freiwild gehetzt. Ihr Capo di Cabinetto, ein Süditaliener namens Grillo, ist unser böser Geist. Nach Willkür werden wir bald in Freiheit gesetzt, bald wieder eingefangen, ein sadistisches Spiel mit unglücklichen Menschen an einer langen Leine, viel grausamer als das die Katz es mit der Maus treibt, bevor sie ihr den Kopf abbeißt. 22 _ ZWISCHENWELT O, dieser niederträchtige Kommissar Dr. Grillo! 41 Monate sind es bis heute! 41 Monate hindurch hat er uns, alle von Kulturvölkern geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze verhöhnend, mit Hilfe eines aus unserer Mitte gekauften Konfidenten, einem ehemaligen Wiener Polizeisanitätsrat, ungestraft seelisch und körperlich mißhandelt, körperlich durch systematisches Aushungern, 20 Pfund Gewichtsverlust waren normal. Wir wurden der unbarmherzigen, skrupellosen Profitgier eines gewissenlosen, italienischen Unternehmers (namens Gisovachino) preisgegeben. Alle Bitten, unsere Küche in eigener Regie zu führen, wie es in vielen Konzentrationslagern anderer italienischer Provinzen der Fall war, scheiterten an diesem Dr. Grillo und seinen Spießgesellen. Allerdings wäre dann der Profit und Diebstahl seitens des Unternehmers und seiner Kreaturen an den armen hilflosen Internierten unmöglich geworden. Monate hindurch kamen allwöchentlich im Turnus ein Kommissar zu uns als Leiter des Campos, um mit tesserierten Lebensmitteln heimzufahren. Vier Kommissäre waren es, so daß im Laufe eines Monats jeder einmal diesen auf unsere Knochen so ausgiebigen Posten innchatte. Jede Beschwerde wurde mit Hilfe des Wiener Sanitätsrates schon im Keime erstickt. Dieser Herr, ich nenne ihn Dr. Slovak, weil er Kinder hat, dieser Herr also erhielt als einziger deutscher Jude von der fascistischen Quästur regelmäßig einen monatlichen Lohn unter dem Titel Lagerarzt, trotzdem im benachbarten Urbisaglia ein für uns von der Regierung bestimmter Lagerarzt ursprünglich da war. Den italienischen Behörden gegenüber und später auch dem deutschen Lagerkommando in Sforzacosta gab er sich mit Vorliebe als ehemaligen österreichischen Oberst aus, trotzdem seine Haupttätigkeit in Wien darin bestand, Häftlinge und Verbrecher auf Hafttauglichkeit oder Dirnen auf ihre Gebrauchsfähigkeit zu untersuchen. Bestenfalls war er Regimentsarzt in unserer Armee gewesen, also im Hauptmannsrang. Während der Zeit unserer Internierung in Urbisaglia und Sforzacosta, durch 40 Monate hindurch bezog dieser „Oberst“ täglich von unserer Küche kostenlos mindestens einen Liter Wein und reichliches Essen von allerbester Qualität. Die Intelligenz der italienischen Internierten beargwöhnte deshalb diesen Dr. Slovak bereits nach kurzer Zeit. Aber wir die Deutschen, allen voran der leichtgläubige Herr Feldhammer, verteidigten voll Eifer die Lauterkeit unseres „Arztes“. Ich weiß nicht warum, aber er war mir von dem Augenblick an sympathisch, als ich ihm bei unserem ersten Spaziergang im Mailänder Gefängnishof meine einzigste und letzte Zigarette schenkte, trotzdem ich selbst nervös und rauchhungrig war. „Und nun lieben wir die Menschen um des Guten willen, das wir ihnen antun, und hassen sie um des Bösen willen, das sie von uns erleiden“, sagt Tolstoi — Fedja im „Lebenden Leichnam“. Wie hat sich das an mir bewahrheitet! Über mich, meinen besten Freund und seine Familie, denen gegenüber er mündlich und schriftlich innigste Freundschaft heuchelte, hat er drei Jahre hindurch in gemeinster Erfindung verleumderisch nach Macerata geheim berichtet. Das hinderte ihn jedoch keineswegs, mich zur gleichen Zeit bei sich bietenden Gelegenheiten wie Gottesdienst, Geburts- und Feiertagen, bei Vorträgen, die ich im Lager hielt, als Muster eines „Menschen, Kameraden, Offiziers und Künstlers“