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höchstzupreisen und O, Judas! abzuküssen. Zur Entschuldigung meiner Blindheit kann ich nur anführen, daß er es mit meinem Freunde, dem von uns allen hochgeschätzten Vertrauensmanne Benno, und den anderen maßgebenden Internierten ähnlich gemacht hat. Die Mehrzahl von uns hat trotz mancher Zwischenfälle drei Jahre hindurch an diesen Spitzel geglaubt, weil er als Berufspolizist zweifellos klüger und gerissener war als wir alle, die, zermürbt von Hunger, unter der seelischen Mißhandlung des Dr. Grillo stöhnten. Beispielsweise gab es kein Briefgeheimnis im Lager selbst. [...] Ein hergelaufener, 26-jahriger sizilianischer Agent (namens Juffre), der zu Not lesen konnte, verteilte die täglich einlaufende Post während des Appells in eigentümlicher Weise. Wenn es ihm paßste, fischte er sich eine Karte oder einen Brief heraus, besonders wenn er von einer Frau stammte, fing [...] an, Sätze aus dem betreffenden Schreiben, laut buchstabierend, zu entziffern und zu glossieren, bis ein von lieber Hand kommender Gruß oder Wunsch durch diesen Liimmel entweiht wurde. Wenn er besonders manierlich aufgelegt war, warf er einem dann dieses Schreiben in großem Bogen durch die Luft vor die Füße. Ich habe mir die Ungezogenheiten dieses Kerls [...] laut vor allen Internierten beim Appell auf das nachdriicklichste verbeten. Aber unser Herr „Oberst“ ließ sich von diesem Liebling Grillos duzen [...], wie er überhaupt jedem neuen Agenten, neuem Carabinieri und neuem Kommissar auf Schritt und Tritt liebedienerisch nachlief und als erstes erzählte, trotzdem wir es ihm oft verboten hatten, wie grausam man in Dachau und Buchenwald, den deutschen Konzentrationslagern, gegen die Häftlinge gewesen sei. Was Wunder, daß wir bei allen Beschwerden sofort zu hören bekamen, wir sollten nur schön ruhig und froh sein, überhaupt in einem italienischen Lager leben zu dürfen. [...] Ich habe als Erster gegen den geradezu trostlosen Fraß zu protestieren gewagt. Es war nämlich vom Ministerium des Inneren ein neuer Lagerkommandant ernannt worden, ein Conte namens Dr. Paolo Spezia. Ich ging zu ihm mit der uns aufgetischten lächerlichen Portion Mortadella, wovon es zu der Zeit in Italien noch sehr viel gab. Es wurde von uns gemeinsam ein bedeutendes Gewichtsmanko festgestellt. Man bedenke, wieviel der Wirt bei etwa 100 Portionen an diesem Gang allein uns unterschlug. Der Graf, er war erst ein paar Tage bei uns und ist bestimmt ein anständiger Mensch, der jedoch gegen Grillo und Genossen sich nicht durchsetzen konnte und eines Tages verabschiedet wurde, der Graf versprach mir, sofort einen Bericht an das Ministerium abzusenden. Wir haben nie eine Antwort bekommen. Hingegen wurde kurz darauf die Tabelle entfernt, worauf die uns gesetzlich gebührenden Quantitäten und Qualitäten von Lebensmitteln verzeichnet standen. Erst jetzt, im Internamento Libero, habe ich von einem Kameraden, der es selbst gelesen hat, erfahren, daß unser Sanitätsrat, dem doch unser aller Gesundheitszustand anvertraut war und der mir zu jener Zeit besonders zugetan schien, ins Geheimbuch der Quästur hineinbegutachtet hatte: „Und wenn man Herrn F Teller voll Braten vorgesetzt hätte, würde er auch rebellieren und Unruhe stiften, weil er principiell mit allem unzufrieden ist.“ Ein jugoslavischer Gentleman, ein Architekt namens Ostric, geißelte mutig das frevelhafte Profitmachen unserer Küche dem Herrn Grillo und seinem Spießgesellen Tellerini gegenüber. Unmittelbar darauf wurde dieser Internierte, der mit seinem 65 Jahre alten Vater bei uns lebte, strafweise allein nach einer sumpfigen, malariadurchseuchten Insel verschickt. Nicht genug an dem wurde uns verkündet, daß jedes künftige Protestieren gegen die Küche schärfstens bestraft würde. Hier hatte überall der Spion Dr. Slovak die Hand in Spiele. Denn er mußte doch für das ihm gratis aufgetischte Essen und Trinken was leisten. Nun wagte niemand mehr zu mucken. Nur ich konnte nicht die Goschen halten. Als eines Tages der monatlich uns inspizierende Generalinspektor erschien und gerade, als wir das Mittagessen hinter uns hatten, unseren Speisesaal mit der Frage betrat: „Siete contenti?“ („Seid ihr zufrieden?“), da rief ich empört: „No, abbianco tutti fame!“ („Nein, wir haben alle Hunger!“). Daraufhin entstand große Verwirrung. Wir hörten den Herrn Generalinspektor im Büro laut Auchen. Unser Herr „Oberst“ lief aufgeregt vom einen zum anderen und erklärte, daß sich doch nichts ändern würde und daß der Herr Generalinspektor nur eine Operettenfigur sei und daß ich schr, schr unklug gehandelt hätte, und daß mir das bei der Quästur gewaltig schaden würde. Das war mir aber egal, und ich freute, der ganzen Clique unangenehm geworden zu sein. Und siehe da, schon nach wenigen Tagen bekamen wir ein Supplemente von etwa 25 deg in der Schale gekochten Kartoffeln täglich. Das war zum ersten Male etwas, das uns den Hunger milderte. Früher schon hatte man selbst zu kochen begonnen, das heißt, wer halbwegs davon etwas verstand. Leider war ich in dieser Hinsicht hilflos. Man verschaffte sich von hinten herum durch Wäscherinnen, Postboten, Küchenpersonal, die oft zu unserer erheiternden Genugtuung ihren Chef selbst bestahlen, Lebensmittel, und bezahlte Wucherpreise, die gewöhnlich um 500 % höher waren als der Normalpreis. Doch dieses Selbstkochen wurde zeitweise, weil gegen den Profit der Küche verstoßend, durch Herrn Grillo verboten oder zumindest verfolgt und erschwert. Denn es bestand, so unglaublich und unwahrscheinlich es klingt, groteskerweise ein zweiter Tisch, den wir den „Millionärstisch“ nannten, weil nur die Begüterten unter uns, etwa 25%, das Geld hatten, um sich die Draufzahlung an den Wirt zu leisten. Man bedenke: In einem kriegführenden Lande, wo alle Lebensmittel tesseriert sind, das heißt, wo jede Person gerechterweise nur ein bestimmtes Quantum und eine bestimmte Qualität zugewiesen bekommt, und daß von Amtswegen gerade die Pubblica Sicurezza, also die Quästur, darüber zu wachen hatte, daß die gesetzlichen Bestimmungen unter Androhung von schwerster Geld- und Freiheitsstrafe befolgt werden. In eben diesem kriegführenen Lande gibt es ein derselben Quästur Macerata unterstelltes und von seinen amtsführenden Kommissäre persönlichst geleitetes Campo Concentramento in der Villa Bandini, worin der Wirt unter dem Schutze der Kommissäre für gut Situierte bessere, mit Öl und Fett zubereitete Speisen, und größere Quantitäten, als vom Gesetz vorgeschrieben ist, verkauft. Ich selbst habe, nachdem ich fast zwei Jahre schwer unter Hunger zu leiden hatte, die letzten Monate an diesem „Millionärstisch“ gegessen, weil ich mir nicht mehr anders helfen konnte, und, was die Hauptsache war, weil Du, mein geliebter Onkel Fred, mir 1.000 Lire monatlich in der letzten Zeit geschickt hattest, da Du endlich [...] ohne mein Zutun meine Adresse erfahren hattest. Dieser zweite Tisch für Besserzahler — es waren größtenteils Italiener, denn wir Deutschen erhielten von einem Unterstüzungskomitee nur 80 Lire im Monat — konnte naturgemäß nur so erhalten werden, daß man die für durchschnittlich 100 Personen zugewiesenen Lebensmittel zum großen Teil den 70% der armen Internierten mit Hilfe der Quästur (Grillo und Genossen) unterschlug. Die so erbeuteten Mengen verteilten sich auf den Wirt und sein Küchenpersonal, auf die Kommissäre, die aus Macerata kamen, und auf den zweiten Tisch, der allerdings trotz Draufzahlung Jänner 2012 23