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In der Folgenummer der „Sozialistisch-Akademischen Rundschau“ findet sich in der Rubrik „Aus unserer Zeitungsmappe“ ebenfalls eine kurze Notiz zu Brügels Schreiben an den Rektor der Universität Wien. Es handelt sich um die Wiedergabe einer Bemerkung in der in Berlin erscheinenden Zeitschrift Weltbühne: Dies Vorgehen sei zur Nachahmung empfohlen. Wenn das an den Stätten der Wissenschaft so weitergeht, werden überhaupt bald gar keine Studenten mehr da sein, denen an wirklicher Arbeit liegt. Dann würden die Herren unter sich sein, und bald könnten alle Professoren abgebaut werden, denn von den Krawallmachern, denen der Rektor auch sonst noch den „Ordnungsdienst“ übertragen hat, läßt sich ja doch keiner in den Kollegs sehen. Das ist aber auch gar nicht nötig. Im Dritten Reich braucht man nur noch den Nachweis zu erbringen, daß man gut pöbeln und randalieren kann, sonst darf man strohdumm sein.” Weitere Reaktionen sind bislang nicht bekannt. Auch Nachahmer, wie es die Weltbühne vorschlägt, sind wohl auch aufgrund der Tatsache, dass für die Berufsausübung von Ärztinnen, RechtsanwaltInnen, BeamtInnen und WissenschafterInnen die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt werden mussten, in Österreich nicht bekannt geworden.” Dennoch kann angenommen werden, dass Fritz Brügels Protest in Parteikreisen, im Kreis der Freien Gewerkschaften oder in Volksbildungskreisen diskutiert wurde. Der Verzicht auf das Doktorat und die damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen haben durch die politischen Umbrüche der folgenden Jahre und die Auflösung der parlamentarischen Demokratie und ihrer Strukturen vermutlich an existentieller Bedeutung verloren. Nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 löste das austrofaschistische Regime in Österreich die noch existierenden sozialdemokratischen Organisationen und Kultureinrichtungen auf und verbot deren Zeitschriften und Zeitungen. Als demokratische Einrichtungen fielen auch die Arbeiterkammern dem „autoritären Kurs“ des Austrofaschismus zum Opfer. Sie wurden Geschäftsstellen der staatlich kontrollierten „Einheitsgewerkschaft“. Im Gegensatz zu vielen anderen kündigte Fritz Brügel, wie auch Käthe Leichter, das Arbeitsverhältnis in der Arbeiterkammer Wien „freiwillig“. Die Kündigung wurde seitens der neuen „Kammerführung“ nachträglich in eine Entlassung umgewandelt.*! Im austrofaschistischen Standestaat wurden zahlreiche SozialistInnen verhaftet und eine Reihe von prominenten Schutzbundmitgliedern auch hingerichtet. Im Herbst 1933 wurde fiir politischen GegnerInnnen des Regimes das Anhaltelager Wöllersdorf eingerichtet. Viele führende SozialdemokratInnen mussten nach Möglichkeit sofort am 12. Februar 1934 oder in der unmittelbaren Folgezeit in (noch) demokratische Nachbarstaaten, wie etwa die Tschechoslowakei, flüchten, um den Verfolgungs- und Verhaftungsmaßnahmen des Austrofaschismus zu entkommen. Fritz Brügel flüchtete mit dem Zug nach Prag. Nach dem Historiker Karl R. Stadler saßen im selben Zug die Redakteure Ernst Fischer (1899 — 1972) und Ludwig Wagner (1900 — 1963), sowie Hugh Gaitskell (1906 — 1963), der 1933/34 Gastdozent an der Universität Wien und 1955-1963 Führer der „Labour Party“, also der britischen Arbeiterpartei, war.” Auch im Exil setze Fritz Brügel mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, wie etwa dem Verfassen von schriftlichen Protesten, seinen Kampf gegen den Austrofaschismus und für Freiheit und Demokratie vehement fort. Im Juni 1934 protestierte Brügel in einem Brief an den XII. Internationalen Kongress des Pen-Clubs in Edinburgh gegen die „Zerstörung der geistigen Freiheit in Österreich“. Dieser Appell Brügel fand im Gegensatz zu Brügels Rücklegung seines Doktordiploms größere internationale Beachtung, so etwa protestierte in der Folge der Vorsitzende des PEN-Kongresses, der englische Schriftsteller und Historiker H. G. Wells (1866 — 1946) gegen die „... geistige Gleichschaltung in mehreren Ländern, darunter in Österreich“. Weiters löste eine Resolution des englischen Autors Raymond für die „Freiheit des Geistes“ eine heftige internationale Debatte aus.” Brügels Brief wurde am 20. Juni 1934 im tschechischen „Sozialdemokrat“ abgedruckt - woraufhin die österreichische Botschaft in Prag eine Abschrift davon an die Bundespolizeidirektion Wien weiterleitete mit dem Ersuchen, dies weiter zu verfolgen. Die österreichische Polizei, im Austrofaschismus auch in Aberkennungen von Staatsbürgerschaften involviert, setzte daraufhin die bürokratische Sanktionierungsmaschinerie in Gang, was am 6. November 1934 zur rechtsgültigen Aberkennung der Bundes- und Landesbürgerschaft von Fritz Brügel führte (sein Reisepass war noch bis 5. Oktober 1934 gültig gewesen und hatte ihm eine legale Ausreise ermöglicht). Nachdem er vom austrofaschistischen Österreich „ausgebürgert“ worden war, nahm er die tschechische Staatsbürgerschaft an.’ In der 1935 in Brünn erscheinenden Arbeiter-Zeitung hieß es dazu: Die österreichischen Faschisten konnten bisher nur einigen sozialistischen Vertrauensmännern und einigen Schutzbündlern, die aus der österreichischen Herrlichkeit ins Ausland zu entfliehen vermochten, die große Ehre entziehen, österreichische Staatsbürger zu sein. Aber da man Hitler kopieren will, so mufte man schließlich doch einen Schrifisteller finden, den man ausbürgern konnte. So fanden die Herren Fritz Briigel.” Zu den EmigrantInnen in der Tschechoslowakei hielt er mit Ausnahme von Otto Bauer (1881 — 1938) wenig Kontakt.” In den Jahren 1936/37 besuchte Fritz Briigel, der im Gegensatz zur sozialdemokratischen Linie unter Joseph Buttinger (1906 — 1992) die kommunistische Volksfrontpolitik befürwortete, auf Einladung des „Verbandes sowjetischer Schriftsteller“ die UdSSR, die ihn zu einer Reihe von prosowjetischen Artikel veranlasste.” Nachdem Österreich am 12. März 1938 mit dem sogenannten „Anschluß“ Teil des nationalsozialistischen Dritten Reichs geworden war und nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens vom 30. September 1938, das das Ende der Tschechoslowakischen Republik bedeutete emigrierte Brügel unter dem Decknamen Bedrich Dubski mit seiner zweiten Frau Vera, die er vermutlich in Prag kennengelernt hatte, über die UdSSR nach Paris, wo er den Gründungsaufruf der „Liga für das geistige Österreich“ („Ligue de l’Autriche vivante“) mitunterzeichnete.‘° Seit Anfang 1939 lebte Fritz Brügel mit seiner Frau im südfranzösischen Le Lavandou, wo damals auch der österreichische Dichter Emil Alphonse Rheinhardt (1889 — 1945) und eine Gruppe von ,,... eher konservativen, teilweise monarchistischen Österreichern“' als Flüchtlinge lebten. Warum blieb Fritz Brügel bei dieser Gruppe? Der Schriftsteller und Literaturwissenschafter Alfred Kantorowicz (1899 — 1979), der ebenfalls zu dieser Gruppe gehörte und der das Ehepaar Brügel im Frühjahr 1939 kennengelernt hat, berichtete in seinen biographischen Aufzeichnungen darüber: Fritz Brügel hatte nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland die in seiner Wiener Wohnung zurückgelassene wertvolle und umfangreiche Bibliothek in die Schweiz bringen lassen, wo er Teile davon aus finanziellen Gründen verkaufen musste. Käufer der Brügel’'schen Bibliothek war ein, in den Aufzeichnungen von Kantorowicz nicht namentlich genannter, österreichischer Industrieller”, der Jänner 2012 31