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ebenfalls 1938 aus Österreich emigriert war und sich wie Fritz Brügel im südfranzösischen Ort Le Lavandou angesiedelt hatte. Er ließ Teile der Bibliothek Brügels in seine Landvilla bringen. Als der Industrielle nach Kantorowicz davon hörte, „... daß der von ihm verehrte Schriftsteller sein Nachbar geworden war, machte er Aufwartung und lud den Flüchtling ein, sich ‚seiner‘ Bibliothek zu bedienen“. 1940 floh Fritz Brügel über Spanien und Portugal nach London, wo er mit seiner Frau, die schon 1939 nach England gegangen war, wieder zusammentraf. Ab 1941 arbeitete Brügel in London im Außenministerium der tschechischen Exilregierung unter dem tschechischen Außenminister Jan Masaryk (1886 — 1948), engagierte sich zeitweilig auch im „Free Austrian Movement“ und war Mitarbeiter der Zeitschrift „Zeitspiegel“, die weiterhin für die Volksfrontlinie eintrat. 1945 kehrte Fritz Brügel als tschechoslowakischer Staatsbürger in die Tschechoslowakei zurück und trat in den diplomatischen Dienst ein. 1946 wurde er stellvertretender Leiter, 1949 Chef der tschechoslowakischen Militarkommission in Berlin. Noch von Prag aus wandte sich Fritz Brügels Prager Rechtsanwalt am 8. Mai 1946 an einen Wiener Rechtsanwalt mit dem Ersuchen „... um Besorgung seines Doktordiploms. [...] Weiters benötige er eine Bestätigung, dass er sich den notwendigen Rigorosen unterzogen hat“. Das Schreiben wurde vom Juristen Ludwig Adamovich (1890 — 1955), damals Rektor und zuvor Justizminister der letzten austrofaschistischen Regierung, an das Professorenkollegium der philosophischen Fakultät weitergeleitet, wo es befürwortet und schließlich auch vom Senat genehmigt wurde. Knapp sechs Wochen später, am 1. Juni 1946 erhielt der Rechtsanwalt Fritz Briigels, Dr. Ladislaus Vejchode-Ambros, ein Schreiben von Rektor Adamovich folgenden Brief, in dem dieser mitteilte, dass Fakultät und Senat beschlossen hätten „Herrn Doktor Fritz Brügel das Diplom eines Dr. phil. neuerlich auszustellen““ — gegen Erstattung aller anfallenden Kosten. Nach der Ermordung des tschechoslowakischen Außenministers Jan Masaryk im Jahr 1948 wurde Fritz Brügel von Berlin nach Prag zurückgeholt und zum Leiter der Abteilung „Österreich und Deutschland“ im tschechoslowakischen Außenministerium ernannt. Nach dem Überhandnehmen von Justizwillkür in der Tschechoslowakei nach der kommunistischen Machtergreifung beschloss Brügel, von einer Berliner Dienstreise nicht mehr nach Prag zurückzukehren, sondern unter Protest aus dem diplomatischen Dienst auszutreten, und emigrierte über die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz neuerlich nach England, wo er in London als „... heimatloser Linker, der irgendwo in der Fremde die Summe ziehen wollte, so ihm noch Kraft blieb“, lebte.” 1951 veröffentlichte er in London sein letztes Buch „Ihe Plotters“, das gleichzeitig in Zürich unter dem deutschen Titel „Die Verschwörer“ erschien.® An eine Rückkehr nach Österreich, das noch unter den Alliierten aufgeteilt war, dachte er aus politischen Gründen und wohl auch aus persönlichen Gründen kaum. An seine chemalige Mitarbeiterin in der Bibliothek der Arbeiterkammer Wien, Wanda Lanzer (1896 — 1980), schrieb er aus London nach Stockholm: Nach Osterreich sollten Sie sich nicht trauern. Was sie einst kannten, gibt es nicht mehr. Und wird es nie wieder geben. Ich weiß das sehr lange schon, etwa seit 1936. Seien sie froh in einem sauberen Land zu sein, das bestimmt viel Gutes hat.’ In London widmete sich Fritz Brügel nach Kräften wieder verstärkt seinem literarischen Werk und verdiente sich mit 32. ZWISCHENWELT Kurzgeschichten fiir verschiedene Zeitungen und Zeitschriften seinen spärlichen Lebensunterhalt. Trotz finanzieller Schwierigkeiten stellte er an Österreich keine Entschädigungsansprüche. Ebenfalls an Wanda Lanzer schrieb er: ... Dann hörte ich, dass in meinem Falle zu den Bedingungen eine eidesstattliche Erklärung gehöre, dass ich kein Nazi gewesen sei. Darauf ließ ich die Sache sein. Das Gleiche war mit dem Nachlass meines Vaters. Sein Geld ging verloren, weil ich diese Erklärung ablehnte. Ich empfand es komisch, mich dieser grotesken Erniedrigung zu einer Zeit zu unterwerfen, da alle Nazi-Schrifisteller wieder frei und ungehindert schreiben dürfen.” Fritz Brügel starb am 4. Juli 1955 im Alter von 58 Jahren völlig verarmt im Londoner Stadtbezirk Camden, seine Kremation fand im Krematorium Golders Green im Stadtbezirk Barnet am 7. Juli 1955 statt. Seine Frau Vera Brügel, die in London Stoffe für eine große Textilfirma entworfen hatte, beging 1956 46-jährig in Ascona am Lago Maggiore Suizid.’” Einer seiner wenigen Freunde, der Schriftsteller Alfred Kantorowicz schrieb in seiner Autobiographie über ihn: Er war ein Dichter gewesen, ein Denker auch von vornehmen Gaben — und mir war er mehr: ein Freund, der in Notzeiten sich bewährte, ein Vorbild geistiger und menschlicher Integrität. Deshalb mufste er in unserer Zeit wie ein Hund verrecken.” Anmerkungen 1 Alfred Kantorowicz: Deutsches Tagebuch. Bd. 1. München 1959, 594f. 2 Dictionnaire Biographique du Mouvement ouvrier International. Hg. Yvon Bourdet, Georges Haupt, Felix Kreissler, Herbert Steiner. Paris 1971, 60f. Vgl. dazu auch: Ludwig Brügel sechzig Jahre. In: Arbeiter-Zeitung, 6. Februar 1926, 4. 3 Eckart Früh (Hg.): Noch mehr. Fritz Brügel. Wien August 2001, 4. Vgl. dazu auch: Wiener Zeitung, 19. September 1924, 3. 4 Ludwig Brügel: Geschichte der österreichischen sozialdemokratischen Partei (5 Bde.). Wien 1922-25. Ders., Soziale Gesetzgebung in Österreich von 1848-1918. Eine geschichtliche Darstellung. Wien 1920. 5 Verzeichnis über das Vermögen von Juden nach dem Stand vom 27. April 1938. Österreichisches Staatsarchiv: OeSTA/AdR/E. - und Reang., Akt, Nr. 28680. 6 Früh, Noch mehr, 15. Julius Stieber, Fritz Briigel im Exil 1934-1945. Studien zu Leben und Werk des sozialdemokratischen Schriftstellers. Diss., Univ. Wien. Wien 1998. 7 Ernst Glaser, Im Umfeld des Austromarxismus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des österreichischen Sozialismus. Wien-München-Zürich 1981, 417. Vgl. dazu auch: Julius Stieber, Studien zu Fritz Brügel und seiner politischen Lyrik. Vom Aufbruch der österreichischen Sozialdemokratie in den zwanziger Jahren bis zu deren Niederlage im Februar 1934. Dipl. Arb. Univ. Wien. Wien 1991, 11. 8 Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien. Bd. 1 A-Da. Wien 1992, 479. Giinter K. Kodek, Unsere Bausteine sind die Menschen. Die Mitglieder der Wiener Freimaurerlogen (1869 — 1938), 55. Martin Niklas, „... die schönste Stadt der Welt“. Österreichische Jüdinnen und Juden in Theresienstadt. Wien 2009. 9 Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser, Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Wien 2000, 124f. Stieber, Studien zu Fritz Brügel 1991, sowie Stieber, Fritz Brügel im Exil, Iff. 10 Herbert Posch, Akademische „Würde“. Aberkennung und Wiederverleihung akademischer Grade an der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert. Diss., Univ. Wien. Wien 2009, 26. 11 Stieber, Fritz Brügel im Exil, 10. 12 Die Arbeiterkammern in Österreich 1921/1926. Wien 1926, 26f. Karl Stubenvoll, 75 Jahre Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien 1921-1996. Wien 1997, 23ff. Fritz Brügel, Die Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek bei der Wiener Arbeiterkammer: In: Bildungsarbeit. Blätter für sozialistisches Bildungswesen. XII. Jg. Nr. 10. Wien, Oktober 1925, 1f. Fritz Brügel, Die Wiener Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek. In: Aus Werkstatt und Wirtschaft. Monatsschrift für gewerkschaftliche, wirtschaftliche und sozialpolitische Fragen. Wien 1922, 269f. 13 Stieber, Studien zu Fritz Briigel, 1991, 22. 14 Stieber, Studien zu Fritz Briigel, 1991, 22. 15 Stieber, Fritz Brügel im Exil, 10. Vgl. dazu auch: Gerd Callesen, Fritz Brügel (1897 — 1955). In: Günter Benser, Michael Schneider, „Bewahren-Verbreiten-Aufklären“. Archivare, Bibliothekare und Sammler der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung. Bonn-Bad Godesberg 2009, 53ff. 16 Stubenvoll, 1996, 47. Fritz Brügel, Benedikt Kautsky, Der deutsche Sozialismus von Ludwig Gall bis Karl Marx. Wien 1931.