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Oskar Achs Am 1. Dezember 1941 ist Dr. Aline Furtmüller, geb. Klatschko, vertrieben und fern ihrer Wiener Heimat, im amerikanischen Exil in Haverford, Pennsylvania gestorben. Ihr 70. Todestag ist Anlass, sich an die Mittelschulprofessorin, sozialdemokratische Politikerin und Individualpsychologin in der Ersten Republik zu erinnern. Tochter eines russischen Revolutionärs in Wien Aline Furtmüller — von ihren Freunden Lina genannt — wurde am 24. Oktober 1883 als ältestes von drei Kindern! der Familie Samuel und Anna Klatschko in Wien geboren. Ihre Eltern stammten aus Russland; 1880 hatten sie sich in Wien niedergelassen und waren in der Folge österreichische Staatsbürger geworden. Alines Vater, Samuel Klatschko, hatte eine bewegte Jugend hinter sich: 1851 in Wilna, das damals zum russischen Zarenreich gehörte, als Sohn eines Rabbi geboren, studierte er nach seinem Schulbesuch an der Universität in Moskau. Hier wurde er bald Mitglied des Kreises um den „Urgroßvater“ der Russischen Revolution, Nikolaj W. Tschaikowski und musste wegen seiner antizaristischen Gesinnung und revolutionären Tätigkeit aus Russland fliehen. Nach Aufenthalten in Frankreich, England und in einer russischen Kommune in den USA kam er nach Paris zurück, wo er von der französischen Regierung abgeschoben wurde. In Wien fand Samuel Klatschko Aufenthalt und Bleibe, da die Außenpolitik des Habsburgerreiches damals gegen Russland ausgerichtet war und antizaristisch Gesinnten in Österreich Exil gewährt wurde. Hier heiratete er auch Anna Lwoff, eine Musikstudentin aus wohlhabender Familie in Simferopol auf der Halbinsel Krim, die er bereits in Paris kennengelernt hatte. Durch seine eheliche Verbindung und seine berufliche Tätigkeit lebte Samuel Klatschko in Wien in gut situierten, bürgerlichen Verhältnissen; seiner alten, sozialistischen Gesinnung blieb er aber Aline Furtmüller, 1920er Jahre. Foto: Oskar Achs. 34 ZWISCHENWELT weiter treu, ebenso auch seinen Beziehungen zu den verfolgten russischen Revolutionären. Der politisch denkende Intellektuelle wurde bald zum Kopf und Herz der sozialistischen russischen Emigration in Wien und zu einem Bindeglied zur österreichischen Sozialdemokratie, um deren Mitgliedschaft er 1905 ansuchte. Zu Samuel Klatschkos engen Freunden und Vertrauten gehörte auch der russische Sozialist und antizaristische Revolutionär Leo Trotzki (Bronstein), der von 1907 bis 1914 in Wien im Exil lebte; ebenso verband die Familien der beiden eine enge Freundschaft. In seinen Erinnerungen beschreibt Trotzki die geistig-kulturelle Atmosphäre des Elternhauses von Aline Furtmüller folgendermaßen: Die Geschichte meiner zweiten Emigration ist aufs engste verflochten mit dieser Familie, die ein wahrer Herd breitester politischer und überhaupt geistiger Interessen war; in diesem Haus wurde Musik getrieben, waren vier europäische Sprachen heimisch und wurden europäische Verbindungen unterhalten. (Meine Kinder) liebten es, die Familie Kljatschko zu besuchen, wo alle, das Oberhaupt der Familie, die Hausfrau und die erwachsenen Kinder, sehr aufmerksam gegen sie waren, ihnen allerhand Interessantes zeigten und sie mit herrlichen Dingen bewirteten.? Die junge Aline Furtmüller: emanzipiert, intellektuell und links Aline Furtmüllers politisches Denken und Handeln wurde durch die Einflüsse ihrer Kindheit und Jugend stark geprägt. In einer Darstellung ihres Lebens aus dem Jahr 1923 berichtet sie: Die Kämpfe, die uns den Lebenslauf so vieler Sozialisten so vielbewegt und fesselnd erscheinen lassen, sind mir erspart geblieben. [...] In freier, geistiger Luft konnten wir Kinder heranwachsen, durften unsere Eltern als ideale Vorbilder verehren und lernten schon früh die Klassenscheidung der Gesellschaft verstehen und verwerfen. [...] Ich erinnere mich sehr gut, wie ich als Kind einmal ganz verwundert war, von einem älteren Wiener Genossen zu erfahren, dass er noch nie in seinem Leben eingesperrt war. In meiner Vorstellung gehörte das Eingesperrisein geradezu zum Wesen eines anständigen Menschen. Hatte ich doch von den Helden der achtziger Jahre bis zu Trotzki immer unerschrockene Menschen, die alles um ihre Sache wagten und hergaben, als täglichen Umgang gehabt.’ Weitere Einflüsse auf Aline Klatschkos politische Sozialisation übten gegen Ende ihrer Schulzeit und während ihres Universitätsstudiums sozialistische Gruppierungen im Studentenbereich aus, vor allem der „Sozialwissenschaftliche Bildungsverein“, wo sie auch ihren späteren Mann Carl Furtmüller kennenlernte. Durch die intellektuelle Atmosphäre ihres Elternhauses wurden Alines Fähigkeiten und Interessen — immense Sprachbegabung, Freude am Lesen und Schreiben sowie großes musikalisches Talent — stark gefördert und ausgebaut. Besonderen Wert legten ihre Eltern auch darauf, dass ihre Tochter — so wie ihre zwei jüngeren Geschwister — eine höhere Schulbildung erhielt, was in der damaligen Zeit für Mädchen in Österreich eine Besonderheit und Ausnahme darstellte. Die Exklusivität einer solchen Schulbildung zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass es damals in Wien, in