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EXIL IN ARGENTINIEN ||

Melech Rawitsch
„Das andere Deutschland“

Melech Rawitch (1893 — 1976) schrieb vor allem Lyrik in jiddischer
Sprache. Daneben zählen zu seinen wichtigsten Werken „majn leks¬
sikon‘“, eine enzyklopädische Dokumentation jiddischer Schriftsteller,
und „doss maijsse-buch fun majn lebn‘, seine Autobiographie, die in
vier Bänden in Buenos Aires und Tel Aviv verlegt wurde. Der hier
wiedergegebene Ausschnitt in der Übersetzung von Armin Eidherr
bezieht sich auf die Jahre, die Rawitsch von 1912 bis 1921 in Wien
verbracht hatte. Wichtige Stationen seines unsteten Lebens waren
Warschau und Montreal, wo er starb.

Auch in Buenos Aires hielt sich Rawitsch Ende der 1930er Jahre
auf. Hier konnte er mit Hilfe des polnischen jiddischen Schrifistel¬
lerverbands mehrere Bücher veröffentlichen, weil zu dieser Zeit das
Jiddische in der Hauptstadt Argentiniens sehr verbreitet war. Wegen des
hohen Anteils jüdischer Emigranten, die in der Diaspora in anderen
Sprachen sozialisiert worden waren, geriet die jiddische Sprache ins
Hlintertreffen und wird derzeit in Buenos Aires kaum mehr gesprochen.
Edgardo Cozarinsky gedachte mit seiner Erzählung „Sie nannten
mich flatterhaft und so...“ der jiddischen Sprache und insbesondere
des jiddischen Theaters in Argentinien. Rawitsch seinerseits fand auch
Aufnahme in die Anthologie Österreichischer Exilliteratur „In welcher
Sprache träumen Sie?“ (Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2007).

Das Jahr ist 1920, und die Stadt ist Wien. Und es ist erst kurze Zeit
nach dem Ersten Weltkrieg, dem „Krieg, der alle Kriege beenden
wird“ — und die einzigen auf der Welt, die wahrhaftig an dieses
Schlagwortglauben, das in England ausgedacht worden ist—wahr¬
scheinlich von einem Poeten-, sind tatsächlich die Poeten. Und daja
der „Krieg, der alle Kriege beenden wird“ schon seit November 1918
beendet ist-sind tatsächlich alle Kriege vermutlich schon beendet.

Die große deutsche Literatur beginnt wieder zu sich zukommen,
zu ihren universalen Idealen nach der nationalistischen Abweichung,
von der sogar ein so großer sozialer Dichter wie Richard Dehmel
zeitweise fasziniert war, der sich sogar — ungeachtet seiner fünfzig
Jahre — als Freiwilliger zum Militär gemeldet hat. Da kam uns,
dem Kreis jiddischer Poeten, die damals in Wien wohnten — Ber
Horowitz, Melech Chmelnizki, Mosche Liwschiz und mir -, die
Idee, sich enger mit den deutschen Wiener Poeten zu befreunden
und in Jiddisch eine Anthologie der großen, humanistischen,
modernen deutschen Gedichte herauszugeben.

Gesagt, getan. Es wurde bestimmt, daß die Verständigung da¬
rüber mit dem tiefen deutschen Dichter jüdischer Abstammung
Albert Ehrenstein gesucht und ihm die Redaktion der Anthologie
übergeben werden sollte; und ich sollte seitens unseres Kreises
der Genosse sein, der sich mit der Angelegenheit abgeben, die
Übersetzung und die faktische Herausgabe organisieren würde.

Wir standen zu jener Zeit — wir hatten eine eigene Zeitschrift,
„Kritik“, und einen eigenen Verlag, „Der Kwal“ [„Die Quelle“], in
Wien - in enger Verbindung mit David Ignatows Verlag „Amerike“
in New York und mit dessen „Schriften“. Da es vorgesehen war,
daß die Arbeit des Herausgebers und auch der Übersetzer honoriert
werden sollten — kamen wir auf eine geniale Idee: Sich an den Verlag
„Amerike“ wenden, er möge die Ausgabe finanzieren. Das wird
ein Frohlocken und Glücklichsein - eine glatte, runde Sache. Der

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erste Schritt der jiddischen Literatur zur großen Verbrüderung der
Völker durch das Gedicht? Es ist doch die Zeit der Beendigung
aller Kriege, und wenn die deutsche Literatur die Anthologie ihrer
neuen Gedichte auf Jiddisch sehen wird — wird sie ihrerseits einen
Band Übersetzungen moderner jiddischer Gedichte auf Deutsch
herausgeben. Frohlocken und Glückseligkeit.

Es dauerte nicht lange, und auch Albert Ehrenstein, mit dem
ich mich viele Male getroffen hatte, ich kam zu ihm und er zu
mir nach Hause, war von dieser Idee begeistert. Und er trug auch
seinerseits etwas bei: Die Anthologie sollte ein einheitliches Gesicht
bekommen. Die „Jungen“ in Amerika würden sie herausgeben —
und daher müßte auch die Anthologie eine junge sein. Aber man
könne sie nicht mehr „Das junge Deutschland“ nennen, denn
dieser Name sei bereits vor der Revolution des Jahres 1848 benützt
worden. Ehrenstein hatte eine geniale Idee: Man solle die Anthologie
„Das andere Deutschland“ nennen, und das sage schon alles. Es
drücke aus, daß das nicht das Deutschland der Pickelhauben und
Kanonen sei, nicht das Deutschland der Technik, auch nicht das
damals stark aktive linke Deutschland — sondern das Deutschland,
das keine Angst vor jüdischem Einfluß habe, denn „alle Menschen
sind Brüder“, mit einem Wort- tatsächlich das andere Deutschland,
welches das wahre sei... So traumte Ehrenstein.

Und- jetzt müsse man die Namen jener Dichter zusammenstel¬
len, die in der Anthologie vertreten sein sollten. Und es müsse ein
Buch von rund hundertzwanzig Seiten sein. Keine Anthologie im
gewöhnlichen Sinn, in der alle, oder fastalle vertreten... sondern nur
jene, die tatsächlich tiefinnerlich „das andere Deutschland“ seien.

Ich erinnere mich genau an den Augenblick: Wir sitzen zu zweit
an einem Tischehen auf der Terrasse vor dem Café Landtmann,
gegenüber der Wiener Universität. Die Nacht sinkt herab. Still
strahlt die Sonne und blaßrot. Ehrenstein, der ja kein Schönling
war, verdeckt das Gesicht mit seinen schmalen Händen vor der
Sonne, und er ist gänzlich — Nachdenklichkeit und Vision. Er
spricht Namen aus, und ich notiere:

Else Lasker-Schiiler, Georg Heym, Georg Trakl, Franz Werfel,
Albert Ehrenstein. Es dauert eine lange Weile, bis Ehrenstein wieder
seine schönen, schmalen, langen Finger von seinem Gesicht nimmt.
Die Sonne ist inzwischen ganz untergegangen, und er kann die
Augen schon offen halten.

Er notiert aufeinem Stück Papier noch eine ganze Reihe Namen,
aber er tut es nur um der Selbstkontrolle willen. Er ist jedoch sicher,
daß diese fünf- und nicht mehr - in die Anthologie hineingehören.

Er blickt jetzt noch einmal auf die fünf Namen und noch ein¬
mal. Und er fängt an, sich sehr zu wundern. Er bemerkt mit einer
Art mystischem Staunen, daß von den fünf Dichtern nur drei am
Leben sind, und zwei sind schon tot. Und noch etwas bemerkt
er: Daß die drei Dichter, die in die Anthologie aufgenommen
werden müssen und noch am Leben sind, Juden sind: Else Lasker¬
Schüler, Franz Werfel und er selbst — Ehrenstein. Er hatte mystische
Neigungen — Ehrenstein —, er stand damals auf dem schmalen,
unentschlossenen Pfad zwischen Christ werden und Jude bleiben,
und dieser Zufall mit den beiden toten und drei lebenden Dichtern
beunruhigte ihn sehr.