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Er sagte mir damals auch: „Wie sonderbar — die größte Gedichte schreibende Persönlichkeit des ganzen deutschen Sprachgebiets in Österreich und Deutschland, und überall auf der Welt — ist Else Lasker-Schüler. Auf der einen Seite vergöttert sie der jüdische Selbsthasser, der Satiriker Karl Kraus, und sagt, er würde euch für ein Gedicht von ihr den ganzen Heine weggeben; und auf der anderen Seite vergöttert sie der christlich-religiöse deutsche Dichter Peter Hille und sagt von ihr, sie sei ‚der schwarze Schwan auf den ewigen Wassern Israels‘.“ Von unserer Unterhaltung, die spät abends im Cafe Landtmann endete, blieb, daß eben diese fünf Dichter - tot oder lebendig - in der Anthologie „Das andere Deutschland“ in jiddischer Übersetzung vertreten sein würden. Es lohnt sich, hier in der Geschichte einige Worte extra über Georg Trakl hinzuzufügen. Er war ein überaus zarter und sensitiver Dichter — seine Worte dünn wie Spinngewebe und ebenso tragisch... Seine Seele verfing sich letztendlich in diesem Spinngewebe selbst. Geboren im Jahr 1887 — beging er im Jahr 1914 als Offizier in der österreichischen Armee Selbstmord. Er starb in einem Spital in Krakau, im Alter von 27 Jahren. Bevor wir vom Café Landtmann auseinandergehen, schreibt Ehrenstein auf ein Stück Papier eines seiner Gedichte; er möchte sehr gerne schen, wie das auf Jiddisch klinge, und ich tue es ihm zuliebe und übersetze — soweit es aus dem Stegreif möglich ist: jiesch wochn, wochn hob ich kejn uiort nischt arojssgesogt, ejnsam leb ich — fardart un ojssgenogt, ojfn himl zwitschert nischt kejn ejnziker schtern. ich wolt geschtorbn — asoj gern. majne ojgn far'umert fun engschaft, in a winkl bin ich farkrochn, klein wil ich sajn wi a schpin a klejne, ober kejner wil mich afile nischt zetretn. sogt, wemen hob ich den bejs-geton? ale gute — afıle geholfn zubisslech. glik majnss — dich wel ich kejnmol nischt hobn. un kejner wil mich nischt lebedik bagrobn. Verzweiflung Wochen, Wochen sprach ich kein Wort; Ich lebe einsam, verdorrt. Am Himmel zwitschert kein Stern. Ich stürbe so gern. Meine Augen betrübt die Enge, Ich verkrieche mich in einen Winkel, Klein möchte ich sein wie eine Spinne, Aber niemand zerdrückt mich. Keinem habe ich Schlimmes getan, Allen Guten half ich ein wenig. Ghick, dich soll ich nicht haben. Man will mich nicht lebend begraben. Ich lese Ehrenstein die schnell hingeworfene Ubersetzung vor, er strahlt wahrhaftig — sowohl wegen des Klangs der Worter, die ihm gleichzeitig fremd und doch vertrautsind; aber hauptsächlich wegen der hebräischen Buchstaben, die ihm bislang vollstandig unbekannt sind. Ehrenstein wirft einen Blick auf die Uhr und wird seltsam unruhig. Er bittet mich, ihn zu begleiten, und wir gehen zum ,,Deutschen Volkstheater“. Und da beginnt er, immer wieder dieses Gebäude zu umkreisen, das von einem Garten umgeben ist. Wir gehen einmal rundherum, zweimal, dreimal, fünfmal, und endlich frage ich, was das bedeuten soll? Ehrenstein zögert einen Augen blick, endlich sagt er: „Elisabeth Bergner spielt hier in diesem Theater, und ich liebe sie und will ihr nahe sein. Es ist doch ganz simpel. Waren Sie denn noch niemals verliebt?“ (Elisabeth Bergner war damals ein junger, eben erst aufgegangener Stern auf der deutschen Bühne. Wer in den Büchern Ehrensteins blättert, findet dort oft ihren Namen unter den Widmungen.) Die Vorstellung muß bald zu Ende sein. Ehrenstein wird noch unruhiger und steht schon bei dem kleinen Türchen, durch das die Schauspieler hinausgehen, und wir nehmen voneinander Abschied. Morgen werde er zu mir kommen. Am nächsten Tag steht er nachmittags zur vereinbarten Stunde vor meiner Tür. Er läutet, ich öffne ihm und er ist wie verzaubert. (Ich habe gerade an jenem Tag ein Messingtäfelchen mit meinem offiziellen Namen in lateinischen Lettern an meine Tür geklebt: „S. Ch. Bergner“ und das Pseudonym in jiddischen Lettern dazu.) Ehrenstein fragt mich: „Träume ich — wer heißt da Bergner in dieser Wohnung?“ (Denn so populär der Name „Bergner“ auch ist, so selten ist dieser Name überall.) Das Geheimnis ließ sich ganz leicht aufklären: Elisabeth Bergner ist von jüdisch-galizischer Abstammung und eine ferne Verwandte von uns — so fern wie Osten von Westen —, weil alle Bergners in Galizien irgendwie miteinander verwandt sind. Mein Vater kannte unseren Stammbaum schr genau, nahm ihn aber mit in sein stilles Grab. Nun zurück zur Geschichte „Das andere Deutschland“. Nach den ersten Zusammentreffen begann die Arbeit. David Ignatow war von der Idee begeistert, schickte sogar sowohl für den Herausgeber als auch für den Übersetzer eine Avance. Und jeder einzelne Dollar war in jenen Hungerjahren im ausgezehrten Wien ein Vermögen. Sehr schnell wurde das Manuskript von Albert Ehrenstein zusammen- und die Übersetzungen zum größten Teil fertiggestellt... Doch auf einmal riß ohne irgendeine Ursache bei allen der rote Faden des Interesses. Ehrenstein fuhr plötzlich ohne ein Lebewohl von Wien irgendwohin fort und gab monatelang kein Zeichen von sich. David Ignatow begann, dringlich das Manuskript der Anthologie einzufordern — so schnell wie möglich, denn wenn es nicht sein sollte, würde er den ganzen Plan aufgeben. Und dann hörte die Korrespondenz über diese Angelegenheit auf. Aber ich selbst übersetzte und übersetzte und konnte einige der Übersetzungen sogar drucken lassen - und fuhr schließlich fort von Wien nach Warschau — und packte das ganze „Andere Deutschland“ in einen Koffer. Albert Ehrenstein starb mit 63 Jahren in New York, im Jahr 1950. Else Lasker-Schüler starb fünfundsiebzigjährig in Jerusalem, das war im Jahr 1945. Franz Werfel starb vierundfünfzigjährig, im Jahr 1945, in Kalifornien. Georg Trakl und Georg Heym waren schon tot, als die Anthologie geplant wurde. Irgendwo in meinem Archiv ist der dichterische Traum vom „Anderen Deutschland“ liegengeblieben. An die Geschichte habe ich mich in den Monaten des Adolf Eichmann-Prozesses in Jerusalem erinnert und sie auch niedergeschrieben. Besteht da ein Zusammenhang? Vielleicht ja und viel leicht nein. Sicher ist, daß das alles traurig ist, traurig wie das Gedicht „Verzweiflung“ von Albert Ehrenstein. Aus: Melech Rawitsch: Das Geschichtenbuch meines Lebens. Auswahl. Aus dem Jiddischen übersetzt und herausgegeben von Armin Eidherr. Salzburg, Wien: Otto Müller Verlag 1996.— Die ersten beiden Bändevon Rawitschs Autobiographie „dossmajsseh-buchfunmajnlebn“erschienen 1962 und 1964 in Buenos Aires, der dritte Band 1975 in Tel Aviv. Jänner 2012 39