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Julia Hahn 1. Wohnbaupolitik als günstige Voraussetzung für österreichische Architekten im späteren Exil „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine von uns sprechen“, meinte Bürgermeister Karl Seitz bei der Eröffnung des Karl Marx-Hofes am 12. Oktober 1930. Am 4. Mai 1919, wurden die Wiener Gemeinderatswahlen mit überwältigender Mehrheit (54,1 %) von der SDAB, der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei, gewonnen, diesen Vorsprung konnte die Partei bis 1934 noch ausbauen. 1927 erreichte sie mehr als 60% der Stimmen. Mit 1. Jänner 1922 wurde Wien ein selbständiges Bundesland mit eigener Steuerhoheit, der Grundlage für die Durchführung des sozialdemokratischen Reformprogramms. Das „Rote Wien“ war damit möglich geworden, eine Entwicklung, die in ihrer Bedeutung weit über Österreichs Grenzen hinaus reichte. Zum Kernpunkt der neuen Kommunalpolitik sollte der Wohnbau werden. Der visionäre sozialdemokratische Finanzstadtrat Hugo Breitner schuf eines der umfangsreichsten gesellschaftlichen Reformprogramme des 20. Jahrhunderts, indem er ein neues Abgabensystem kreierte. Besteuert wurden: Automobile, Pferde, Hauspersonal, Luxus und Vergnügen. Die Gemeinde Wien, 1918 am Rand des wirtschaftlichen Ruins, war 1923 imstande, ein über fünf Jahre angelegtes Projekt zur Errichtung von 25.000 Wohnungen zu beginnen. Zwei weitere Wohnbauprogramme folgten, bis 1934 wurden 61.175 Wohnungen errichtet. Dieses gewaltige Bauvolumen verringerte die Arbeitslosigkeit wesentlich und sicherte einer Reihe von kleinen Baufirmen und Baustoffherstellern das Überleben. Bis 1922 verfügte das Stadtbauamt über eine eigene Architekturabteilung mit ca. 20 Architekten — viele von ihnen Schüler Otto Wagners —, die Gemeindewohnhäuser entwarfen. Der Karl Marx-Hof, symbolträchtigster Bau des Roten Wien wurde von Karl Ehn, einem beamteten Mitarbeiter des Stadtbauamtes, entworfen. Vor allem organisierte das Stadtbauamt die öffentliche Hermann, Frid! & Walter Loos. Promenade in Mar del Plata (Argentinien), 1950 Az W, Sammlung 40 —_ ZWISCHENWELT Seit 1923 wurden zunehmend private Architekturbiiros durch Auftrage oder aufgrund von Wettbewerben mit der Planung beauftragt. Mangels privater Auftrage wurden sie zunehmend von der öffentlichen Hand abhängig. Bis 1934 wurden für rund 400 Bauvorhaben 199 Architekten herangezogen. Diese blieben bei der äußeren Gestaltung der Bauten weitgehend weisungsftei, allerdings gab es eindeutige Vorgaben der Stadt hinsichtlich Wohnungsgröße, Infrastruktur und der Verwendung standardisierter Bauteile, Türen, Fenster, Beschläge, Stiegenhausgeländer, Armaturen und Sanitärgegenstände. Dies erklärt, weshalb Gemeindebauten der 1920er Jahre trotz großer architektonischer Vielfalt im Stadtbild deutlich erkennbar sind. Im Dezember 1929 wurde die „Beratungsstelle für Inneneinrichtung“ (BEST) im teilweise fertiggestellten „Karl Marx-Hof“ untergebracht. Interessenten konnten in der BEST Mustereinrichtungen besichtigen und Vorträge über Einrichtungsfragen besuchen. Die Einrichtung der neugeschaffenen Bauten erforderte ein neues Konzept der Möblierung, die von Architekten entworfen wurden. Bisweilen wählten sie die damals modernen Bugholzmöbel der Firma Thonet, die bis heute noch benutzt werden. Die Werkbundsiedlung, die 1929 bis 1932 unter der kiinstlerischen Leitung von Joseph Frank am „Roten Berg“ errichtet wurde, war ein experimentelles Gegenmodell zur Wohnbautätigkeit der Gemeinde und dennoch von dieser getragen und unterstützt. Bekannte Architekten wirkten mit: André Lucart, Gerriet Rietvield, Hugo Häring und Richard Neutra; Österreich wurde von insgesamt 26 Planern vertreten, u.a. von Adolf Loos, Walter Loos, der 1940 nach Buenos Aires, emigrierte, Josef Hoffmann, Oskar Strnad, Clemens Holzmeister, Walter Sobotka. Elf von ihnen flohen 1938 ins Ausland. Otto Breuer beging Selbstmord. Hermann Neubacher, der als Sekretär des Werkbundes die Siedlung eröffnet hatte, wechselte die Seiten und wurde 1938 erster NS-Bürgermeister von Wien. Die Werkbundsiedlung war mit Sicherheit das letzte gemeinsame Projekt der „architektonischen Avantgarde“ in Wien und vermutlich das einzige gemeinschaftlich erarbeitete. 2. Argentinien als Ziel Die überstürzte Flucht hatte auch österreichischen Architekten kaum Zeit gelassen, ihren Weg ins Exil zu planen. Walter und Friedl Loos beispielsweise kamen 1940 nach Argentinien, um ihr Einreisevisum für die USA abzuwarten, was der Ausbruch des Krieges vereitelte. Der Wiener Architekt Hans Waloschek seinerseits hatte zwei gute Bekannte in Buenos Aires: die Architekten Raul Perez Irigoyen und Willy Ludewig. Letzterer war schon 1936 nach Buenos Aires gekommen. Buenos Aires war 1930 eine europäische Stadt, eine pulsierende Kulturmetropole, mit vielen Geschäften, Kinos und Theatern, lauten Straßen, vielen Buchläden und einem Opernhaus, dem Teatro Colön, dem größten und bedeutendstem der südlichen Hemisphäre. An sich erwarteten die Architekten günstige Voraussetzungen. Allerdings konnten sie nicht ahnen, dass Argentinien