OCR
weit gefasster poetischer Traum der Generationen des Exils und der Diaspora war, [...]“ Damit verallgemeinert er, dass jüdische Identität prinzipiell seit Beginn der Diaspora eine des Exils sei. Das folgenschwere Vorurteil von den sogenannten Fremdkörpern in allen Ländern könnte mit einer solchen Aussage gerechtfertigt werden, obwohl diese These nur auf Heine gemünzt ist. Zudem musste zu Heines Zeit Israel drei Generationen vor der Entstehung des Zionismus eine gänzlich andere Bedeutung gehabt haben als nach der Wende zum 20. Jahrhundert. Für den Übersetzter Bauer gilt, dass er wegen der von ihm nicht selbst gewählten jüdischen Identität das Exil suchen musste und darum in Österreich keinesfalls ein Bewusstsein der Diaspora entwickelt hatte. Anders verhält es sich mit Borges‘ letzter Erzählung, die postum 1989 erstmals veröffentlicht wurde. In „La memoria de Shakespeare“ erhält der Shakespeare-Forscher Herrmann Soergel das Gedächtnis des elisabethanischen Dramatikers von einem anderen Anglisten. Das fremde Gedächtnis verbreitet sich vorerst in Soergels Träumen und entfremdet ihn zunehmend von seiner Lebenssituation im Wachzustand. „Mit Schrecken bemerkte ich, daß ich die Sprache meiner Väter zu vergessen begann. Und da die persönliche Identität auf dem Gedächtnis beruht, fürchtete ich um meinen Verstand./ Meine Freunde kamen mich besuchen; es verblüffte mich, daß sie nicht wahrnahmen, daß ich in der Hölle war./ Ich begann, die alltägliche Umwelt nicht mehr zu verstehen. “° Unter den möglichen Interpretationen ist es auch legitim, hierin eine Metapher für die Exilliteraturen zu lesen, die Borges in Buenos Aires begegneten. Die Überschneidung des Gedächtnisses an andere Orte zu einer lange zurück liegenden Zeit mit einem vorgefundenen Alltag, weil die erinnerte Sprache sich den kommunikativen Erfordernissen verweigert, bereitet eine Hölle. Dies gilt insbesondere für Menschen, die im Exil Texte verfassten und noch heute verfassen. Die Probe aufs Exempel besteht allenfalls die Novelle „Das Abenteuer einer Jüdin“ von Else Jerusalem (1877-1942 [2])®, die sie 1941 in Buenos Aires im Selbstverlag veröffentlichte. Ein Exemplar konnte in den österreichischen wissenschaftlichen Bibliotheken nachgewiesen werden.’ Darin erzählt Jerusalem von den Fährnissen der Tochter eines reichen russischen Schnapsbrenners aus Odessa, Renée, die in eine Familie der ,,castillanischen Noblezza“*, die in Argentinien einen einst beachtlichen Großgrundbesitz heruntergewirtschaftet hat, einheiraten soll. Die Gegensätze scheinen unüberwindlich, Sie glaubt, sie nur mit der Annahme einer neuen Identität überwinden zu können, und nimmt den Namen Landra an. In dieser Fiktion erfährt sie bei der Hochzeit jene Entfremdung, die der des Soergel bei Borges ähnelt. „Sie wissen ja. Alles geschieht nur für die Familie.‘/ Und sie hob den Tugendring zur Hakennase empor.“ In diesem Schlusssatz tritt auch der identitare Konflikt von Jerusalem zutage. Die normative Kraft der angenommenen christlichen Identität — symbolisiert im Trauring, des unabdingbaren Bestandteils des ehelichen Sakraments — vereinigt sich in der ziemlich österreichischen Geste des Handkusses mit dem unentrinnbaren körperlichen Gedächtnis an die Hakennase, dem antisemitisch definierten Merkmal. Mit dem Stilmittel der Geschmacklosigkeit spiegelt sie die intentionale Geschmacklosigkeit des diskriminierenden ,,signifié“, so dass sie die aufgezwungene Fremdbezeichnung als „signifiant“ erkennen lässt. Mit diesem Zusammentreffen von einer Realität, der Landra ausgeliefert ist und dem Gedächtnis von Renee/Else Jerusalem entlässt die Autorin die Leserinnen und Leser in jene Hölle, in der sich Soergel fand. Der Unterschied verdeutlicht die Schreibposition von Autorin und Autor. Soergel kann das Fremdgedächtnis schließlich weitergeben und endastet sich, Landra hingegen bleibt der Fremdheit in Lateinamerika weiterhin ausgesetzt. Der Vergleich verdeutlicht auch die Geschlechterdifferenz, da die Identität als Ehefrau, bei diesem Schluss, einer besonderen Fragilität unterworfen sein wird. Argentinische Literaturwissenschafterinnen und Literaturwissenschafter entwickelten eine internationale Perspektive für die Exilliteratur, die aus deren Blickwinkel die Gegebenheiten in Argentinien ausführlicher behandelt. In anderem Zusammenhang meinte schon 1986 Ricardo Piglia (geb. 1940), dass Wytold Gombrowicz (1904 — 1969) einen argentinischen Roman in polnischer Sprache geschrieben habe. In Kindlers Literaturlexikon gilt ,, Trans-Atlantyk“ als der am deutlichsten polnische Roman von Gombrowicz.'° Auch Gombrowicz verschlug der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 in das argentinische Exil. Mittellos verließ er in Buenos Aires den Dampfer, weil ihm eine Rückfahrt nach Europa zu riskant erschien. „Den einundzwanzigsten august 1939 bin ich auf dem schiff Chroby in Buenos Aires eingelaufen.“'' In der Fiktion des Romans spielt ein Gombrowicz die Hauptrolle, die immer wieder die eigene Geschichte berührt, aber mit dem Autor nicht ident ist. Er beschreibt ein Duell um die Originalität in der argentinischen Literatur. Die Gobrowicz-Figur erfährt eine fiktive Bedrängnis mit mehreren ironischen Wendungen. „In meiner angst nun, daß ich wegen dieser meiner güllenscheißer, die mich für einen g...sch...r halten, vor den anderen g...sch...rn als g...sch...r dastehe, schreie ich: ‚Güllenscheiße, güllenscheiße, giillenscheife!’/ Er antwortete: ‚Dies ist nun gar kein schlechter Gedanke und mit Pilzen serviert recht lecker, wenn man ihn nur ein wenig anbrät und mit Sahne abschmeckt; allerdings ist er bereits von Cambronne formuliert worden ...‘ und indem er sich fester in seinen Sack-Paletot einschloß, rümpfte er wieder das bein./ Es verschlug mir die sprache! Ich vergaß meine zunge im maul! Der schuft brachte mich dermaßen zum schweigen, dass ich keine worte hatte, denn was mein war war nicht mein, sondern angeblich gestohlen!“'? In der transkulturellen Konfrontation lässt sich die Eigenwilligkeit in Stil, Rhythmus und Form erkennen, an der Gombrowicz an diesem Werk, das ausschließlich in Argentinien verfasst wurde, gefeilt hatte. Die Leichtigkeit, mit der Stoffwechsel und verfeinerte Ernährungssitten förmlich mit Sahnehäubchen ineinander fließen, beschreibt aber auch ein verstummendes Verzweifeln am bezweifelten geistigen Eigentum. '? An einer Teilhabe an der Spitze der polnischen Nationalliteratur war ihm sicher nicht gelegen, denn in seinem Vorwort zur Warschauer Ausgabe 1957 manifestiert Gombrowicz: „Trans-Atlantik ist unter anderem eine Satire. Es ist auch unter anderem eine, sogar recht intensive, Abrechnung [...] Es ist richtig, dies ist ein Korsarenschiff, das eine Menge Dynamit schmuggelt, um unsere bisherigen nationalen Gefühle zu sprengen. Es enthält auch ein ganz deutliches Postulat in Bezug auf dieses Gefühl: Das Polentum überwinden. Unsere Unterwerfung unter Polen zu lockern! Sich davon losreißen, wenigstens ein bißchen!“'* Unter Umständen fordert „Irans-Atlantyk“ die anfangs postulierte Notwendigkeit einer breit gefächerten Rezeption der Exilliteraturen am stärksten heraus. Gombrowicz fährt fort: „Irans-Atlantik ist ein Werk der Phantasie. Es ist alles erfunden in nur schr loser Verbindung mit dem wirklichen Argentinien und der wirklichen polnischen Kolonie in Buenos Aires.“'> Jänner 2012 47