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der kulturellen Szene wurden zum „Verschwinden“ gebracht. Der Rest, der störte, musste ins Exil gehen.“ An anderer Stelle bemerkt er resignierend: „Wie wenig Einfluss die Intellektuellen doch in unserer Gesellschaft haben.“ („Que poca influencia en nuestra sociedad tienen los intelectuales.“)' In ihrer Publikation „Un golpe a los libros“ („Ein Schlag gegen die Bücher“) warten Hernän Invernizzi und Judith Gociol mit konkreten Zahlen auf, wie Einschüchterung, konkrete Aktionen gegen Personen aus dem kulturellen Leben und strategische Umbesetzungen in wichtigen Verlagen die Buchproduktion in Argentinien veränderten. So kamen in den 1950er-Jahren 80 Prozent der Buchimporte in Spanien aus Buenos Aires. Vom lateinamerikanischen Boom profitierte natürlich auch Argentinien. Selbst die Wiederauflage bestimmter Titel war beachtlich. 1974 druckte die argentinische Buchindustrie 50 Millionen Bände pro Jahr. 1979 waren es nur mehr 17 Millionen. Mit diesem Einbruch gingen auch zahlreiche Jobs von RedakteurInnen, LektorInnen und ÜbersetzerInnen verloren. Von März 1976 bis Dezember 1982 hat das Kulturministerium [der Stadt Buenos Aires] 560 Bücher beanstandet, das entspricht 80 Titeln jährlich und 6,9 pro Monat. Davon wurden 433 mit Bewerbungsbeschränkungen in den Buchhandlungen belegt und 127 wurden für unmoralisch erklärt!‘ Als „unmoralisch“ qualifizierte Bücher waren komplett verboten. Dabei ist bemerkenswert, dass die meisten Bücher, nämlich 69, in den Jahren 1978 bis 1979 verboten wurden. Es zählt also das bereits erwähnte statuierte Exempel.'” In seinem Beitrag für das Buch von Invernizzi und Gociol gedenkt der „Casa de las Am£ricas“-Preisträger Jorge Boccanera der vom Regime verschleppten und ermordeten AutorInnen: Roberto Santero, Francisco Urondo, Miguel Ängel Bustos, Marcelo Gelman, Tilo Tener, Claudio Ferraris, Lucina Älvarez, Oscar Barros, Juan Carlos Higa, Gloria Quejue Wilson, José Hierro, Rafael Morales, Haroldo Conti und Dardo Dorronzoro. Unter den 30.000 „Verschwundenen“ ortet Boccanera auch die Fantasie.'® „Un golpe al los libros“ stellte einen ganz wichtigen Meilenstein in der Debatte um kulturelle Zensur in Argentinien dar. Es fasste nicht nur die bisherige Diskussion zusammen, sondern arbeitete mit jenen 600 Dokumenten (von erwa 4.000 Seiten) aus dem so genannten „Archivo Banade“, die sich mit dem Ihema befassen. Die 2001 aufgefundenen Dokumente stammen Großteils aus dem damaligen Innenministerium und legen ein unerwartet klares Zeugnis über die Mechanismen der ofliziell nicht existierenden Zensur ab. Vor allem in Hinblick auf AutorInnen, die ihre offene Opposition gegen das Regime mit dem Leben bezahlt haben, muss der Beginn der Debatte um kulturelle Zensur allerdings noch früher datiert werden: Ein beindruckendes Dokument, dass nicht nur durch seine Eindringlichkeit sondern auch durch seine analytischen Fähigkeiten besticht, ist Rodolfo Walshs offener Brief an die Militärdiktatur vom 24. März 1977 anlässlich des unsäglichen ersten Jahrestages dieses Regimes. Mit diesem Brief unterzeichnete Walsh zugleich sein Todesurteil und folgte damit seiner Tochter Vicky in den Tod als Guerillero nach. In Rio Grande do Sul (Brasilien) fand 1999 ein weiterer Kongress statt, der in diesem Zusammenhang interessiert: Er befasste sich mit der Zensur von Kinder- und Jugendliteratur. Das Symposium thematisierte aber titelgebend nicht nur die Zensur, sondern auch die entsprechenden Gegenstrategien. Kinder- und Jugendliteratur stand naturgemäß besonders im Fokus jener, die glaubten, Kultur und damit eine Gesellschaft nach ihren Ideologien zu formen.'? 1999 ist jenes Jahr, um über eine weitere Katastrophe Bilanz zu ziehen, die in dem Buch von Ana Maria Machado und Graciela Montes auch Thema ist: In diesem Jahr endete die 1989 begonnene Regentschaft von Carlos Saul Menem und damit eine Ära brutalster neoliberaler Politik, die im Verlagswesen vor allem dazu führte, dass es kaum noch kleine argentinische Verlage gab, die nicht von USamerikanischen oder spanischen Verlagsgruppen aufgekauft worden Das Kulturministerium der Stadt Buenos Aires sparte von 1976 bis 1983 nicht an Papier, wenn es um das Verbot von Büchern ging. Jene Polizeiakten, die auch unmittelbare Maßnahmen der Zensur wie Festnahmen oder Beschlagnahmen dokumentieren, befinden sich heute im Archivo Provincial por la Memoria in La Plata. Foto: Florian Müller. waren. Der Kommentar Fernando Ferreiras in seiner Geschichte der Zensur ist dabei sehr typisch für die Debatte zu diesem Thema - seiner Ansicht nach hat der Neoliberalismus jenes Werk vollendet, das die Militärs begonnen hatten: Ich sage immer, dass den Bankern im Guten gelungen ist, was die Militärs im Bösen nicht zustande gebracht hatten: Bühnen zuzusperren. All jene Theater, die sie hassten, sind heute geschlossen.” Und Ferreira räumt dabei ein, dass Zensur heute nicht über Reduktion, sondern über Akkumulation funktionieren würde. „No hay mal que por bien no venga“ - „Nichts Schlechtes bringt nicht auch etwas Gutes“, heißt es im Spanischen so schön, und so brachte der vollständige Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft im Dezember 2001 eine neuerliche Wende in der argentinischen Verlagslandschaft. Die internationalen Verlagshäuser zogen sich mangels Profit wieder aus Argentinien zurück und an ihre Stelle traten kleine, unabhängige argentinische Verlage, die viel Literatur, darunter auch mehr Lyrik und Kurzprosa publizierten, die es durch das bisherige „Nadelöhr Madrid“ nicht geschafft hatten. Sie arbeiten, wenn man so will, mit einer Guerilla-Taktik und besetzen sehr schnell sich öffnende Räume. Nicht wie diese Elefanten von großen Verlagen. Sie haben fast alle jungen Autoren entdeckt, und selbst wichtige Autoren wie Cezar Aira oder Fogwill verlegen dort. Diese Verlage waren verdammt schnell und machten unerwartete Dinge. Und das in einem Moment, als niemand glaubte, dass Argentinien weiter existieren würde, erklärte mir etwa der junge Verleger und Autor Damian Tabarovsky im Rahmen eines Gesprächs auf der Frankfurter Buchmesse 2010. Constanza Brunet, ebenfalls argentinische Neo-Verlegerin ortete in einem Interview auf der Frankfurter Buchmesse 2010 ähnliche Entwicklungen in europäischen Staaten mit kriselnder Wirtschaft wie erwa Spanien. Nachdem zu diesem Zeitpunkt die schwierige finanzielle Lage Griechenlands bereits ein Thema war, sagte sie mir mit einem Schmunzeln eine starke Präsenz kleiner, unabhängiger griechischer Verlage für die Frankfurter Buchmesse 2011 voraus. Jänner 2012 51