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BERICHTE Martin Krist „Mein Mann starb gerade vor einem Jahr, und ich denke, er hat einen solchen Brief sein Leben lang erwartet“, schreibt 2008 Annie Geller, die Witwe Richard Gellers. Dieser wurde am 29. April 1938 von der Realschule Schönbrunnerstraße in die Realschule Radetzkystraße „umgeschult“, wie der Vorgang in der NS-Täter- und Bürokratensprache genannt wurde und der zur kurzfristigen Einrichtung von „Jüdischen Sammelschulen“ an Wiens Höheren Schulen führte. Die Verantwortlichen des heutigen Gymnasiums/Realgymnasiums (GRG) 3, Radetzkystraße, haben so einen Brief geschrieben. Diese Schule hat sich nun seiner Geschichte gestellt und mit Hilfe des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus mit noch lebenden jüdischen SchülerInnen des Schuljahres 1937/38 sowie den der Schule zugewiesenen jüdischen SchülerInnen Kontakt aufgenommen. 39 Antwortschreiben erhielt die Schule, und der Großteil davon wurde nun veröffentlicht. Denn wie Renate Mercsanits, die Projektleiterin und Herausgeberin des sehr informativen und verdienstvollen Buches „Radetzkyschule 1938. Eine Spurensuche“, in ihrer Einleitung schreibt, „verlangt [es] danach, die Schuld- und Verantwortungsverstrickung der eigenen Schule zum Thema zu machen, die Opfer zu kennen und ihre Namen im Gedächtnis der Schule zu bewahren und zu würdigen“. In solch einem Projekt muss natürlich der Frage „nach den Ausgrenzungsmechanismen und der institutionellen und direkten Gewalt der nationalsozialistischen Herrschaft vor Ort“, also an einer konkreten Schule nachgegangen werden. Wie sehr diese Segregationsmaßnahme von vielen damaligen SchülerInnen als erste, drastische Ausgrenzungsmaßnahme des NS-Terrorregimes wahrgenommen wurde und diese auch bis heute nachwirkt, zeigt manche Reaktion, die im Buch wiedergegeben wird. So schreibt etwa Yael Shimron (früher hieß sie Hertha Zeisel) Anne-Marie Bernhard am Beginn ihres Antwortbriefes: „Nach dem Erhalt Ihres Schreibens vom 18.5.2008 hatte ich so meine Überlegungen: antworten — nicht antworten?“ Warum sie dann doch geantwortet hat, begründet sie damit, dass sie es „schätzt, dass ein Versuch gemacht wird, um der 3. Generation die Wahrheit über die Geschehnisse in Wien im März 1938 zu übermitteln“. Oder Rochelle Rachel Lambert (früher Rachel Habermann), die antwortet, dass das Schreiben der Schule für sie eine vollkommene Überraschung war, denn sie dachte nicht, jemals wieder etwas von ihrer ehemaligen Schule zu hören. „Da meine Erinnerungen an diese schreckliche Zeit nach dem ‚Anschluss‘ im März 1938 nur schr traurige sind“, schreibt sie, „war ich froh, nicht an sie denken zu müssen.“ In den im Buch wiedergegebenen Briefen und Berichten sind zahlreiche berührende, aber auch erschreckende Erinnerungen nachzulesen. Erika Agoston (früher Fantl) wurde von ihrer besten Freundin maßlos enttäuscht, denn diese wollte ihr ein Armband mit der Bezeichnung „Jude“ umbinden. Sie rannte weinend aus der Schule, nach Hause zu ihren Eltern. Oder im Bericht von Greta Lendvay, die 1942 ins KZ Theresienstadt, 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde und zum Schluss in Chemnitz in einer Munitionsfabrik Sklavenarbeit leisten musste: „Es gab zwei Toiletten, aufeiner stand ‚Nur für Arier‘, auf der anderen ‚Nur für Häftlinge‘. Ich fragte die SS-Aufseherin, wo ich hingehen sollte, denn dass ich keine ‚Arierin‘ war, war mir klar, aber dass ich ein Häftling war, konnte ich nicht verstehen. Ich hatte keinem Menschen etwas getan, warum wurde ich verhaftet?“ Diese Aussage spricht für sich, wenn wieder einmal unreflektiert der Begriff „KZ-Häftling“ verwendet wird und damit die NS-Tätersprache noch immer Verwendung findet. Vor allem SchulbuchautorInnen und heutige LehrerInnen sollten sensibel mit solchen Ausdrücken umgehen. Im Buch werden jene 28 in der Shoah ermordeten SchülerInnen in Kurzbiographien gewürdigt, die ihr trauriges Ende in Iheresienstadt, Kowno, Riga, Opole, Minsk, Maly Trostinec, Sobibor und weiteren Orten des Schreckens und Grauens erleiden mussten. Auch der einzige ermordete Lehrer, der jüdische Religionslehrer Professor Siegbert Pincus, der in Minsk ums Leben kam, findet hier seine Erwähnung. In den den historischen Kontext erläuternden Beiträgen wird auch erstmals eine Liste der „aus rassischen Gründen“ vom Stadtschulrat Wien 1938 entlassenen LehrerInnen an Höheren Schulen veröffentlicht. Dies ist Renate Mercsanits zu verdanken, die im Übrigen ein ähnliches Erinnerungsprojekt vor einigen Jahren am Bundesgymnasium 9, Wasagasse, initiiert und durchgeführt hat. Das vorliegende Buch ist vielleicht das letzte seiner Art, denn aufgrund des Lebensalters der 1938 aus den Wiener Höheren Schulen aus rassistischen Gründen ausgeschlossenen SchülerInnen wird es derartige Projekte nicht mehr geben können. Aber gerade dieser ist nicht zu ersetzen, wie auch Julia Schmied, eine Schülerin, schreibt: „Je öfter ich über das Gedenkprojekt nachdenke, desto lebendiger werden die Erinnerungen an die erste Begegnung mit den chemaligen jüdischen SchülerInnen unserer Schule. [...] Leider müssen wir bei all dem jedoch bedenken, dass es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird, aus deren Geschichte wir lernen können.“ Radetzkyschule 1938. Eine Spurensuche — Projektdokumentation und Erinnerungstexte. Hg. v. GRG3 Radetzkystrafße, Renate Mercsanits in Zusammenarbeit mit Martha Bernardi, Evelyn Hadler, Michaela König, Peter Waschulin. Wien: Ueberreuter 2011. 193 S., Euro 15,4.-7.10.2011 Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. In Kooperation mit Universität Hamburg (Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für Exilliteratur). www.literaturundexil.unifrankfurt.de Zu einer internationalen und interdisziplinären Tagung, die neue Perspektiven in der Exilforschung präsentierte und zur Diskussion stellte, Juden im Oktober Doerte Bischoff 58 _ ZWISCHENWELT (Hamburg) und Susanne Komfort-Hein (Frankfurt/M.) ein. Ziel war es, der Exilforschung, so die Veranstalterinnen, „richtungsweisende neue Impulse zu geben“, da sich diese „zumal im germanistischen Kontext bislang weitgehend auf das Exil aus Nazideutschland 1933-45 beschränkt hat“. Im Zentrum der Tagung stand ein Blick auf die „zeitliche und räumliche Ausweitung von Exil-Phänomenen“ welche diese mit kulturwissenschaftlichen Reflexionen von Literatur und Exil und deren Bedingungen im 20. und 21. Jahrhundert in Beziehung setzt. Den Auftakt machte ein öffentliches Abendprogramm im Jüdischen Museum Frankfurt. In ihrem programmatischen Eröffnungsvortrag Die Kunst des Exils verwies Elisabeth Bronfen (Zürich) auf die Korrespondenzen eines realen Exils mit der Metapher des Exils, die eine condition humaine der Moderne beschreibt. In