OCR
Vladimir Vertlib Wir Tolerierten Andreas Mölzer, rechtsextremer Chefideologe der österreichischen Freiheitlichen Partei und Abgeordneter im Europäischen Parlament, warnte Ende 2009 in einem Interview vor einer „Umvolkung“ Europas im religiösen und kulturellen Bereich. Der „Zuwanderungs-Islam“ sei als „nicht-autochthone Religion in Europa ein Fremdkörper“. Den NS-Ausdruck „Umvolkung“ ha- ben FPÖ-Politiker in den I0er-Jahren in die politische Debatte eingebracht. Mölzer beklagte schon damals die mangelnde „biologische Potenz“ der Deutschen, ihren „überalterten und schwächeren Volkskörper, der dynamischeren Zuwanderern gegenübersteht“. Zu dieser Zeit war die Religionszugehörigkeit von Migranten noch kein Thema. Thilo Sarrazin, Noch-SPD-Politiker mit arabisch klingendem Familiennamen, verwendet den Begriff „Umvolkung“ nicht. Er spricht von Erbfaktoren, Nettoreproduktionsraten und von „Zeichen des Verfalls“, aber er meint das Gleiche wie Mölzer. Was er über Migranten, Unterschichten und Zuwandererghettos behauptet, spiegelt seine Umvolkungsängste wider. „Ganze Clans haben eine lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele Behinderungen“, heißt es in Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab über türkische und kurdische Migranten. Bildungsbürger Gleiches hätte man vor 100 Jahren über die meist bitterarmen jüdischen und italienischen Einwanderer in den USA sagen können. Es gibt wenige Menschen, deren Vorfahren nicht irgendwann zu einer „Unterschicht“ gehört haben. Doch das spielt keine Rolle. Bildungsbürger Sarrazin wagt, öffentlich auszusprechen, was jahrzehntelang nur an Stammtischen möglich war — und viele applaudieren. Das macht mir Angst. Denn der Erfolg des ehemaligen Bundesbankers ist keine deutsche Absonderlichkeit, sondern eines der Symptome fiir einen europaweiten Backlash, der in Osterreich und den Niederlanden, in Belgien, der Schweiz und Polen, ganz zu schweigen von Ungarn oder Italien, durch ungleich radikalere und gefährlichere Akteure verkörpert wird. Diese hängen einer christlich-abendländischen Illusion nach, die eine vermeintliche Idylle in der Vergangenheit konstruiert. Ein Kitsch-Bild als Besänftigungsmittel, die Provinzialisierung als Methode. Ob in der Zuwanderungs-, Frauen- oder Bildungspolitik: Die Sehnsucht nach der Kirche im Dorf statt einer Moschee am Stadtrand ist größer als die Erkenntnis, man müsse sich, ob man will oder nicht, der Irritation einer permanenten gesellschaftlichen und kulturellen Veränderung stellen, die ohnehin unvermeidbar ist. In Wirklichkeit geht es längst nicht mehr um neue Konzepte von Zuwanderung und Integration oder den Kampf gegen Menschen, die unsere Gesellschaft bedrohen. Ich bin ein Österreicher „mit Mi- grationshintergrund“ und seit Langem gut „integriert“. Manche islamistische Intellektuelle sind das auch. Das macht sie aber nicht weniger gefährlich. Es geht auch nicht um Grundwerte. bieder Mein Vater, der nie richtig Deutsch gelernt und sich in Österreich selten wohlgefühlt hat, war ein vehementer Verfechter von Demokratie und Menschenrechten. Sarrazin, Mölzer, FPÖChef Strache und vielen anderen geht es um Uniformität, die sich in einem ethnisch-kulturellen Kontinuum manifestiert. Sie wollen von Menschen umgeben sein, die ähnlich aussehen, ähnlich denken und ähnlich träumen wie sie, die bieder und rechtschaffen das Sozialprodukt steigern und sich fleißig vermehren, damit alles auch in Zukunft so bleibt. Ein paar gebildete Ausländer, die „nützlich“ sind und nicht auffallen, könne man in einer solchen Welt großzügig tolerieren. Es wäre unmoralisch und kleingeistig zu glauben, die skizzierte Entwicklung gehe mich, einen säkularen Juden, der schon als Kind nach Österreich eingewandert ist, nichts an. Soll ich dankbar sein, dass Herr Sarrazin (trotz seines Geredes vom „JudenGen“) kein Antisemit ist und FPO-Chef Strache in erster Linie gegen Türken und Muslime hetzt? Soll ich mich, wie einige andere Juden oder Zuwanderer, insgeheim darüber freuen, diesmal „auf der anderen Seite“ stehen zu dürfen, nachdem es ausnahmsweise nicht gegen „uns“ geht? Die Ernüchterung kommt früh genug. Ob wir zu den Nützlichen und Tolerierten gehören, bestimmen immer die anderen. In Österreich brauche ich darauf nicht mehr zu warten — es ist schon längst so gekommen. „Wiener Blut, Wiener Blut, zuviel Fremdes tut niemandem gut“, stand im Herbst 2010 in einer Wahlbroschüre der FPÖ. Bei den Wiener Gemeinderatswahlen im Oktober erhielten die Freiheitlichen mehr als 25 Prozent der Stimmen. Dort die Eugenik, hier das Blut. Ein Zufall? Kein Zufall ist, dass ich heute in Österreich oft Schlimmeres zu hören bekomme als in meiner Kindheit und Jugend. Islamophobie, Antisemitismus, Israel-Feindlichkeit: Die Leute auf der Straße greifen bereitwillig auf, was ihnen manche Denker, Ideologen und Politiker vorgeben, und ergänzen es. Auf ihre Weise. In eigener Sache Die österreichische Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung hat entschieden, die Förderungen für außeruniversitäre Foschungseinrichtungen mit Ausnahme der Akademie der Wissenschaften und der Ludwig-Boltzmann-Institute einzustellen, 2011 zur Hälfte, 2012 zur Gänze. Damit soll Wildwuchs ausgereutet und sollen acht Millionen Euro eingespart werden. Wer dennoch weiter forschen will, möge sich mit einer Universität verbinden. Die Theodor Kramer Gesellschaft erhielt keine sogenannte Basisförderung, sondern nur kleine projektbezogene Förderungen. 2009 waren das 8.500 Euro (3.000 für die Betreuung von Bibliothek und Archiv; 2.000 fiir den Druck von ZW; 3.500 für das Symposium „Subjekt des Erinnerns?“); damit wurde etwa ein Zwanzigstel der Jahrestätigkeit finanziert. Wovon dieses Zwanzigstel in Zukunft nehmen? Wir wissen es nicht. Ein Institut für Exilforschung existiert an keiner Universität, auch nicht als Ludwig-Boltzmann-Institut. Die Einsicht in diese Notwendigkeit war nicht vorhanden. Wir erklären dazu: Wir werden unsere wissenschaftliche Arbeit zur Erforschung der Literatur und Kultur des Exils nicht einstellen, weil eine Ministerin sie nicht fördert. Wir sehen auch nicht ein, welchen Sinn es haben sollte, daß Universitätsgremien über Sinn und Notwendigkeit einer Arbeit entscheiden, die ohnhin von etlichen Universitätsangehörigen im Vorstand mitgetragen wird. Wir ziehen es — in öffentlichem Interesse — vor, „Wildwuchs“ zu sein. Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser Februar 2011 3