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Renate Welsh-Rabady Niemand auf der Welt ist so überzeugt von der Macht des freien Wortes wie Diktatoren. An der Wut, mit der sie es verfolgen, müssen wir uns immer wieder aufrichten, wenn wir kleinmütig werden und meinen, wir könnten ja doch nichts ausrichten, es ist alles schon gesagt, alles schon geschrieben, und es hat nichts genützt. Ausgerechnet im Iran habe ich einen geradezu greifbaren Glauben an das gestaltete Wort erlebt, wenn Frauen, die selbst nicht lesen konnten, mit großer Zärtlichkeit einen Band von Hafez aufschlugen, den Finger auf ein Gedicht legten und einen Umstehenden baten, es ihnen vorzulesen. Aberglaube, Orakel? Ich glaube es nicht, das Strahlen in ihren Gesichtern verriet, daß es weit mehr war, daß sich Möglichkeiten aufgetan hatten. Diese tief verwurzelte literarische Kultur ist sicher auch der Grund, warum Schriftstellerinnen und Schriftsteller so erbittert verfolgt werden. Wer jemals in ein schlecht eingestelltes Mikrophon sprechen und die eigene Stimme mit leichter Zeitverschiebung einen ganzen Vortrag mithören mußte, weiß, daß daraus schr bald eine Art Glocke wird, die von allen anderen trennt, du wirst zur gefangenen Stimme, das Sprechen ist völlig sinnlos geworden, du möchtest eigentlich nur noch davonlaufen. Nahid Bagheri-Goldschmied Der Gefährte Zwei Gedichte, dem iranischen Exillyriker Siavash Kasrai gewidmet, dem Verfasser des neuzeitlichen Epos über den mythischen Bogenschützen Arash DEIN NAME STEIGE EMPOR, du Mythenmacher, Epen-Dichter bedeutender Geschicke. Du große Unrast, stets bist du auf der Höhe des fliegenden Pfeils, bist der Arash unserer Zeit. Mit dem Pfeil deiner Liebe, deines Hasses, deines rasenden Herzschlags, mit deinen pulsierenden Versen eroberst du der Dichtung neue Gebiete. Voll Vertrauen in den hochfiebernden Aufschrei des Volkes gleich dem Aufbrausen eines Flusses kleide ich mich in Freude, zerreiße ekstatisch dieses Gewand. Wissensschwanger bekränzen die Töchter der Heimat ihr Haar mit Blumen, endlich strecken sie ihre Köpfe aus dem Fenster der Geschichte, ihre Geliebten ins Stadtgeschehen zu begleiten. 10 ZWISCHENWELT Ich weiß schon, das könnte man leicht als übertriebene Reaktion abtun. Aber wer schreibt, hofft doch immer auf ein Echo und nicht auf das verzerrte der eigenen Stimme. In diesem Sinne bin ich überzeugt, daß es nicht genügt, auf dem Recht zu Schreiben zu bestehen, sondern auch auf dem Recht, Gehör zu finden. „Die Gedanken sind frei“ — hieß es schon in der Antike. Ich glaube, daß wir zu vielen unserer eigenen Gedanken erst dann Zutritt haben, wenn wir sie mit anderen teilen können, daß einsames Denken allzu leicht Gefahr läuft, im Kreis zu gehen, und das gilt ebenso fürs Schreiben, das den Dialog, die Spiegelung braucht und sucht. Darum möchte ich uns alle auffordern, unsere Kolleginnen und Kollegen nicht nur als Verfolgte wahrzunehmen, sondern ihre "Texte zu lesen, uns mit ihnen auseinanderzusetzen, und nicht nur an diesem Abend! Gesprochen am 15. November 2010, dem vom Internationalen PEN-Club initiierten Writers in Prison- Tag; die von Helmut A. Niederle vorbereitete Veranstaltung in Wien fand im Festsaal des Akademischen Gymnasiums statt und wurde auch von der Grazer AutorInnenversammlung, dem Literaturkreis Podium, dem Österreichischen Schrifistellerverband, der IG Autoren und der Theodor Kramer Gesellschaft unterstützt. — Die Schriftstellerin Renate Welsh-Rabady ist Präsidentin der IG Autoren und Mitglied des Vorstandes der Theodor Kramer Gesellschaft. So möchte auch ich auf den Straßen verliebt in die roten Nächte der Lyrik dich, Arash, begleiten. Liebe trage ich im Herzen und meine ganze Lebenskraft auf offenen Handflächen, und wie eine Blume werfe ich dir mein Gedicht zu. Teheran 1978 DER HIMMEL WECHSELT DIE FARBE, schwarze Krähenflügel spannen sich über die Stadt, Düsternis wie ein Tschador sinkt auf mein schläfriges Heim. Das Fenster plötzlich voll Tropfen. Schmerzlich rinnt Fremdheit zur Straße hinab. Ich erhebe mich müde. Ganz langsam ziehe ich der Finsternis die Vorhänge vors Gesicht. Mein Blick fällt