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auf die Vase mit den Schneeglöckchen, die so geduldig mit mir sind. Sie küssen die Erinnerung wach an den vergehenden Winter, die schreckliche Jahreszeit. Sie durchbrachen den Schnee. Hatte ich nicht dem Freund damals Schneeglöckchen geschenkt für seinen Erfolg, den Frühling herbei zu singen? Der Herd voll Zeitasche, es glost noch ein bisschen. Ich opfere ihm ein Holzscheit und Weihrauch, die Flamme lodert auf, der Wandspiegel wird Zeuge, Nahid Bagheri-Goldschmied Uber Siavash Kasrai Siavash Kasrai wurde im Winter 1926 im Iran, in der Stadt Isfahan, geboren. Er starb 1996 in Wien. Kurz gesagt, begann das irdische Leben des Dichters mit der Geburt der Schneeglöckchen auf der Heimaterde, und es endete an seinem siebzigsten Geburtstag, wieder in der Zeit der Schneeglöckchen, auf der Erde eines anderen Kontinents. Siavash Kasrai war Schüler von Nima Yushij (1896 — 1960), der unter dem Einfluss der neuen französischen Literatur die im Iran verbindlichen höfischen Dichtungsformen sprengte und sich den städtischen Massen zuwandte. Bis dahin hatte als Dichtung gegolten, was sich durch klassisches Versmaß und Reim auszeichnete. Deshalb hat man Yushij im Iran „Vater der neuen Dichtung“ genannt. Siavash Kasrai studierte Rechtswissenschaft an der Universität Teheran und arbeitete einige Jahre im Wohnbauministerium, danach lehrte er an der Universität von Zahedan, einer Stadt an der Grenze zu Afghanistan. Sein erster Gedichtband erschien 1957. Zu Ruhm gelangte er 1959 mit dem Versepos „Arash Kamangir“ („Arash der Bogenschütze“). Die Figur des Arash entstammt der altpersischen Mythologie. Mit einfachen, präzisen Formulierungen gelangte Kasrai hier an die Schwelle der Vollkommenheit. In Kasrais Epos opfert sich Arash im Kampf um die Befreiung seines Landes von Fremdherrschaft. Siavash Kasrai glaubte, dass die poetische Neuerschaffung der Realität Aufgabe des Dichters sei. Mit dem sicheren Griff des erfahrenen Gestalters vermochte er aus einigen Passagen des Schahnameh (Buch der Könige, Meisterwerk des Ferdusi) Neues zu schaffen. Kasrais Lyrik handelt vielfach von der Liebe zum eigenen Land, die instinktive Formen überschreitet und in Faszination und wie alle Entferntheit tanzend verbrennt und meine Wangen sich röten. Ich habe ein Nachtmahl auf dem Tisch von festlichen Farben: das Feuer die Erinnerung den Weihrauch die Schneeglöckchen Wien, Dezember 2010 Nahid Bagheri-Goldschmied, Lyrikerin, Prosaistin, geb. 1958 in Teheran, arbeitete als Journalistin, studierte persische und arabische Sprach- und Literaturwissenschaft. Seit 1980 in Wien. 2001 Lyrikpreis „Schreiben zwischen den Kulturen“ (Verein Exil); Vorsitzende des „Iranischen Kunst- und Kulturvereins im Exil“. 2009 erschien ihr Roman „Chawar“ im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft. Selbstlosigkeit endet. In einem anderen Teil dieser Lyrik geht Kasrai weit über Grenzen des Iran hinaus, zeigt er sich fasziniert von den Menschen aller Völker. Er respektierte die junge Generation und machte sich Gedanken über ihre Zukunft. Er fragte oft nach kulturellen und literarischen Neuigkeiten. Er liebte die iranische Kultur treu und leidenschaftlich, und er stellte sich die Aufgabe, sie zu bewahren. Er sah dies als nationale, menschliche und gesellschaftliche Aufgabe. Als der iranische Kulturverein 1995 in Wien eine Lesung mit Mohammad Ghazi, einem namhaften iranischen Übersetzer, plante, fragte man nach Kasrais Meinung dazu. Er sagte: „Laden Sie ihn ein, beeilen Sie sich! Dann werden wir ihn schon kennenlernen. Aber verlangen wir nichts von ihm. Lassen wir ihn einfach reden und hören wir genau zu, was er sagt. Wir sollten uns für seine Mühe bedanken, wir sollten ihn ehren. Wir dürfen nicht vergessen, dass Ghazi uns ein Fenster zur westlichen Literatur geöffnet hat. Durch ihn ist es uns möglich geworden, den weiträumigen grünen Garten der europäischen Kultur zu betreten.“ Siavash Kasrai war im besten Sinne des Wortes neugierig. Wenn man ihm begegnete, fragte er immer: „Was hast du zuletzt gelesen? Was hast du Neues geschrieben?“ Immer sagte er, bee Zeit sei kostbar. Man _ A solle sie sorgsam nüt- Sjayash Kasrai. Foto: Iranischer Kunst- und zen. Kulturverein im Exil Marzpeyma (Grenzgänger), Wien Februar 2011 11