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Immer noch habe ich den Klang seiner Stimme in meinen Ohren, wie er zu seinen Freunden und Anhängern sagte: „Kommen Sie! Überprüfen wir wieder alles, damit wir keine Fehler machen.“ Kasrai war gegen das Festhalten an politischen Doktrinen und trat dafür ein, die Situation der Menschen und der Gesellschaft immer neu zu durchdenken. Schon unter der Schah-Regierung wurde der politisch engagierte Dichter und linke Aktivist Kasrai wiederholt verhaftet und unter Druck gesetzt. Als aber unter dem Regime Chomeinis 1980 die große Welle der Verhaftungen von Künstlern und Intellektuellen begann, musste Kasai Huchtartig das Land verlassen. Er fand in Afghanistan und dann in Moskau Zuflucht. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Wien. Er starb 1996. Am Wiener Zentralfriedhof ist er begraben. Große Dichter sind zugleich auch wortmächtige Historiker ihrer Zeit. Sie beginnen ihre Arneit, wo die Historiker die ihre beenden. Shiavash Kasrai war solche in Dichter, nicht nur des Geschehenen mit all seinen Wendungen, großen und kleinen Niederlagen, sondern auch der Geschichte, die nicht abegeschlossen ist, die weitergeht. Ich war schon seit einem Jahr Mitglied der Bibliothek des Jugendzentrums Nr.21 im östlichen Viertel Teherans, wo ich als erstes weibliches Mitglied registriert war. Ich war dreizehn und ging jeden Tag nach Schulende hin und blieb immer einige Stunden. Damals bemühte sich Farah Diba, die Gemahlin Mohammad Reza Pahlawis, um die Errichtung von Jugendzentren in jedem Bezirk. In jedem dieser Zentren gab es eine große Bibliothek mit einigen Bibliothekarinnen, die die Jugendlichen betreuten. Auch waren Werkräume für Malerei, Animation, Dreharbeiten, Musik vorgesehen. Hier hatte ich zum ersten Mal die Möglichkeit, Siavash Kasrai zu begegnen. Alle Monate lud man Künstler ein, veranstaltete Lesungen, und anschließend stellten die Bibliothekarinnen den Gästen besonders talentierte Jugendliche vor. Ich hatte zwei Jahre zuvor begonnen, Gedichte zu schreiben. Je mehr Bücher ich las und die Werke namhafter Lyriker und Schriftsteller kennenlernte, desto verzagter wurde ich. Sollte ich mein Schreiben wirklich ernst nehmen? Würde es mir überhaupt möglich sein, gleich diesen Schreibgewaltigen eines Tages dauerhafte Werke zu verfassen und zu veröffentlichen? Eines Tages las Kasrai in der Bibliothek. Nach der Lesung stellte mich die Bibliothekarin dem Dichter vor. Etwas unruhig und unsicher trug ich ihm einige meiner Gedichte vor und wartete mit einem unbeschreiblichen Gefühl auf seine Reaktion. Er hatte aufmerksam zugehört und lud mich ein, ihn in der darauffolgenden Woche in seinem Büro zu besuchen. Ich sollte meine gesamten Gedichte mitnehmen. In der Bibliothek hatte ich bereits einige Lyriker und Lyrikerinnen kennengelernt, aber keiner von ihnen war so wie Kasrai auf mich eingegangen. Eine Woche später besuchte ich Kasrai in seinem Büro. Ich brachte ein dickes Heft mit, in das ich meine Gedichte in Schönschrift eingetragen hatte. Außer mir waren noch drei Jugendliche anwesend, die ihn mit Professor ansprachen. Diese Burschen waren Mitglieder der Bibliothek des Armenviertels im südlichen Teheran. Vielleicht waren sie talentiert, später aber kam einer nach dem anderen nicht mehr zu den Zusammenkünften bei Kasrai. 12 ZWISCHENWELT Keiner von ihnen wurde Schriftsteller. Ich wurde wiederbestellt; mein geliebtes Gedichtheft mußte ich zurücklassen. Als ich es wieder erhielt, verließ ich Tag das Büro des Professors voll ängstlicher Erwartung. Das Heft in meiner Hand zitterte. Zuhause zog ich mich in mein Zimmer zurück und schlug es auf. Viele Zeilen waren durchgestrichen, verschmiert, mit Anmerkungen Kasrais überschrieben. Ich begann zu weinen, sagte mir: Nein, nein, aus mir wird nie eine richtige Dichterin werden. Dann fiel mir ein: Für nächste Woche habe ich doch noch einen Termin mit ihm vereinbart. Ich habe ihm versprochen, die in meinem Heft von ihm angezeichneten Strophen (mit der Anmerkung „das ist poetisch und schön“) auszuarbeiten und mitzubringen. Siavash Kasrai wies mich an, mich auf dem Gebiet der Literatur regelmäßig zu informieren und zu lesen. Er war der Meinung, dass ich als junge Schreibende, trotz meiner Versuche, modern zu denken und zu schreiben, einen umfassenden Einblick in die klassische iranische Dichtung bekommen solle. So bemühte ich mich, in den verschiedenen Formen, dem Vierzeiler, der Ghasele und anderen, Gedichte zu schreiben. Als ich sechzehn war, veröffentlichte Kasrai erstmals Gedichte von mir in Literaturzeitschriften. Damals war ich ein wenig von der bekannten iranischen Dichterin Forough Farokhzad beeinflußt. Das hat dem Professor gar nicht gefallen. Nachdrücklich verlangte er einen eigenen Stil von mir. Als ich achtzehn war, zeigte ich ihm bei einem Treffen das Gedicht „Mohnrote Zeichen“, das ich kurz zuvor geschrieben hatte. Aufseinen Lippen erschien ein Lächeln der Zufriedenheit, und ersagte: „Endlich hast du deinen Stil gefunden. Mein junger Baum trägt Früchte.“ Siavash Kasrai Drei Gedichte Aus dem Persischen von Nahid Bagheri-Goldschmied Glaube Mein Herz glaubt nicht an das Ende. Nein. Ich glaube nicht daran. Solang der Atem mein Gefährte ist, lebe ich nicht mit dem Tod. Kann sich die Blume am Ende verwandeln? Wie kann so vieles, das keimt, keinen Frühling erleben, verwelken vor dem Erblühen, zerfallen zu Staub? So viel habe ich mir versprochen. So weit ist die Entfernung in mir. In meinen Gedanken ringen Viele die Hände bei Tag und bei Nacht. Was wird aus ihnen?