OCR
Alexander Emanuely Lese Hamlet, spiele Bridge! Es sind zwei Tage vergangen, seitdem die Wehrmacht die Niederlande überfallen hat. Am Sonntag den 12. Mai 1940 beginnen die britischen Behörden mit der Internierung der enemy aliens. So wie rund 2.800 andere in Großbritannien lebende Männer aus Deutschland und Österreich, wird an diesem Tag auch der aus Wien geflohene Anwalt Otto Harpner (1900 — 1959) von Beamten in Zivil abgeholt und interniert. Drei Tage später, die Niederlande haben inzwischen kapitulieren müssen, Rotterdam liegt in Trümmern, werden rund 2.000 weitere männliche enemy aliens festgenommen. Ende Mai — parallel zur Rettungsaktion in Dunkerque — werden rund 3.000 Frauen interniert. Mitte Juni, kurz nachdem Paris verloren geht, folgen viele tausende weitere Festsetzungen, auch von tschechoslowakischen und italienischen BürgerInnen. Über 100 Aliens tribunals, ein Jurist, ein Schriftführer und ein Polizeioffizier, bzw. ein MI5-Beamter, denen jeweils ein Richter vorsaß', hatten seit Kriegsbeginn die nun ca. 73.000 enemy aliens im United Kingdom, von denen 55.400 Fliichtlinge waren in die Kategorien A, B und C eingeteilt. In der A Class oder Kategorie A waren jene 600 Manner und Frauen zusammengefasst, die ein Sicherheitsrisiko darstellten. 160 von ihnen waren Flüchtlinge. Der Kategorie B wurden 6.800 Menschen zugerechnet. Bei ihnen bestanden Unklarheiten, auch wenn 4.100 von ihnen Flüchtlinge waren. In der Kategorie C fanden sich all jene wieder — es waren rund 64.200 Menschen, davon über 50.000 Flüchtlinge — die als Flüchtlinge oder als NazigegnerInnen anerkannt waren.” Am 12. Mai waren zwar alle 600 Personen der Kategorie A festgenommen worden. Die gleich Otto Harpner 2.200 anderen an diesem Tag Festgenommenen gehörten jedoch zur Kategorie B. Bei ihnen galt, dass sie einfach zu nahe an der südöstlichen Küste gelebt hatten, wo am ehesten eine Invasion drohte. Der Kategorie — zugeordnet zu werden, war oft Ergebnis eines kaum nachvollziehbaren Entscheidungsprozesses der tribunals. Dies hing wohl damit zusammen, dass die britischen Behörden trotz Mitwirkung von Flüchtlingsorganisationen in der gefährlich angespannten Situation leicht überfordert waren, binnen weniger Monate die Biographien von über 70.000 Menschen zu überprüfen. Bei Otto Harpner, welcher Flüchtling und eindeutig ein Nazigegner war, dürfte es vermutlich eine Rolle gespielt haben, dass er im August 1938 nicht als Flüchtling, sondern gemeinsam mit seiner Mutter Tery nach Großbritannien gekommen war, um seinen eben dort verstorbenen Bruder Franz zu begraben. Otto Harpners Ehefrau Lisa und seine beiden Kinder Stefan und Lotte waren erst im Jänner 1939, dafür aber eindeutig als Flüchtlinge nachgekommen. Die Familie lebte in Cambridge, und es bestand der Plan, zu Verwandten in die USA zu emigrieren. Doch dann kamen der Krieg und der 12. Mai dazwischen. Bevor Otto Harpner jedoch — wie die meisten Internierten — auf die Isle of Man gebracht werden sollte, war er bis zum 24. Mai in einem Zwischenlager untergebracht worden. Dieses befand sich in der Kaserne des Suffolk Regiments, dem Gibraltar House in Bury St. Edmunds, 26 Meilen von Cambridge entfernt. Die Kaserne war mehr oder minder leer, da das Suffolk 14 ZWISCHENWELT Regiment zu dieser Zeit in Burma gegen die Japaner im Einsatz war. Danach war er mit allen anderen in das Lager von Huyton gebracht worden, um am 14. Juni auf die Isle of Man verschifft zu werden. Am 21. Oktober 1940 wurde Otto Harpner aus der Internierung entlassen. Rund ein Monat lang — ab dem Tag seiner Internierung — führte Harpner ein Tagebuch, welches in dieser Ausgabe der ZW erstmals veröffentlicht wird. Otto Harpners Sohn Stefan hat der Theodor Kramer Gesellschaft die Unterlagen zur Verfügung gestellt. Wie komplex die Lage rund um die Internierungen war, lässt sich anhand der Gespräche mit Stefan Harpner zeigen, der erzählt, dass sein Vater von der Internierung sogar cher angetan war, ermöglichte ihm diese doch nicht nur alte Freunde wiederzusehen, sondern auch neue zu finden. So zum Beispiel auf der Isle of Man Stefan Harpners späteren Schwiegervater Alfred A. Kalmus (1889 — 1972), Gründer und Leiter der Universal Edition — London. Jedenfalls ermöglichte erst die Freundschaft der Väter die Liebesgeschichte der Kinder, also von Stefan Harpner und Susanne Kalmus Otto Harpners Internierungs-Tagebuch zeichnet den Alltag der Internierung nach, neue Bekanntschaften, Unterbringung, Tagesablauf, Krankheiten, Freuden und Frustrationen. Er, der viel Umgang mit „Cambridge-Leuten“ hat, erzählt von dem, was man die Internierungslager-Universität nennen könnte, dem „kolossal wissenschaftlichen Betrieb“, wie es im Tagebuch heißt. Jedenfalls nützt der ehemalige Anwalt aus Wien die Möglichkeiten der „Lageruniversität“ und besucht etliche Vorträge namhafter und berühmter Mitgefangener oder freundet sich mit diesen an. Da kommt Max Perutz (1914 — 2002) vor, der 1962 zusammen mit John Cowdery Kendrew den Nobelpreis für Chemie erhalten wird. Max Perutz wird bald nicht nur das Lager verlassen, sondern auch innerhalb von drei Tagen die britische Staatsbürgerschaft erhalten, um ungestört an dem militärischen Projekt arbeiten zu können, Eisberge in Flugplätze zu verwandeln. Im Lager organisiert er auf jeden Fall für das Abendessen Extraportionen Würste. Von Frederick Roland Eirich (geb. 1905), einem weiteren Chemiker, borgt sich Otto Harpner Sigmund Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens“ aus. Parallel dazu liest er passenderweise Shakespeare. Otto Harpner trifft den Musikwissenschafter Otto Erich Deutsch (1883 — 1967), von dem das Werkverzeichnis Franz Schuberts stammt, und Kurt Lipstein (1909 — 2007), den späteren Koautor der Encyclopedia of Comparative Law, der eben zu diesem Thema im Lager Vorträge hält. Weiters kommt Otto Harpner mit Otto Benesch (1896 — 1964) zusammen, einem der wichtigsten Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte, der Vorträge über französische Malerei hält, und mit dem Astronomen Günter Archenhold (1904 — 1999), der über Sonnenfinsternis referiert. Günter Archenhold ist übrigens der Sohn von Friedrich Simon Archenold, dem langjährigen Direktor der Treptow Sternwarte, wo Albert Einstein 1915 zum ersten Mal einen Vortrag über die Relativitätstheorie gehalten hat.