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Bürger eines Socialgebildes, das wie kein zweites die Kriegsfolgen zu fühlen bekam, und auch als Erstes in den Strudel jener Ereignisse gezogen wurde, die einstweilen Europa verschlungen [sic!], den Erdball bedrohen. Ich bin der Abstammung nach jüdischer Herkunft. Mit dieser Mitteilung soll keineswegs die Rassenunterscheidung des Nationalsozialismus acceptiert, wohl aber anerkannt werden, dass Herkunft von Jüdischen Vorfahren eine spezifische Komponente darstelle, wenn auch keineswegs jenes prädominierende Element gemäß antisemitischer Anschauung. Eine Komponente also, die mir der Erwähnung auch dann bediirftig schiene, wenn sie mein Schicksal weniger entscheiden bestimmt hätte, als dies tatsächlich der Fall. Ich bin nicht in jüdischem, sondern christlichem Glauben aufgewachsen. Meine Schulerziehung vollzog sich in einer der berühmitesten Erziehungsstätten des kaiserlichen Österreich, einer Klosterschule, in der dennoch alles andere, denn ein dumpfer Geist wehte. Besondere Kulturen bringen auch besondere Schulen hervor und vermitteln ihren Zöglingen auch besondere Denkfärbungen. Das „Schottengymnasium“ war eine solche Traditionsschule, die sich dem Stile nach etwa mit Eaton oder Harrow vergleichen lässt. Die Schule konnte auf eine vielhundertjährige Geschichte zurückblicken, die mit ihren Wurzeln fast bis in die Gründungszeit des Habsburgerreiches zurückführte; und — nebenbei bemerkt — mit dem einstweiligen Ende Österreichs auch ihr vorläufiges Ende gefunden hat. Wenn ich versuchen soll, den Geist zu kennzeichnen, der also auf mich einwirkte, so möchte ich diese Schlagworte wählen: liberaler Konservativismus, Humanismus, Traditionalismus und nicht zuletzt christliche Dogmatik. Mein Vater war einer der führenden Juristen seiner Zeit und seines, ursprünglich mächtigen Vaterlandes Österreich, der seit meiner Geburt nicht nur in der juristischen, sondern auch der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Welt Österreichs eine führende Rolle einnahm. Politisch verknüpften ihn enge Bande mit dem Aufstiege der Arbeiterbewegung in Österreich, mit deren geistigen Führern ihn eine enge politische und persönliche Freundschaft verband; die hervorragendsten dieser Freunde waren: Victor Adler, Haupt der socialistischen Opposition im letzten kaiserlichen Parlament und erster Außenminister der jungen Nachfolgerepublik; Karl Renner erster Premier Neuösterreichs, Unterhändler und Unterzeichner des Vertrages von St. Germain; und Karl Seitz, Bürgermeister von Wien bis zum Dollfusspuisch. Trotz seiner engen Freundschaft mit den socialistischen Führern und seiner Parteianwaltschaft war mein Vater ein derart selbständiger Geist, dass er sich nie der socialistischen Bewegung restlos verschrieb, so ausgesprochene Sympathie ihn mit ihr verband. Er blieb in erster Linie der prominente politische Anwalt, dessen Namen mit den meisten großen politischen Prozessen seiner Zeit verbunden blieb, in denen die legalen Kämpfe gegen Reaktion und Absolutismus des alten Österreich geführt wurden. Als typische Beispiele mögen hier Erwähnung finden: die Verteidigung des nachmaligen Präsidenten der Czechoslowakei Th. G. Masaryk gegen eine Anklage, die ihm seine Kritik an einem Fehlurteil in einem so genannten Ritualmordprozesse zugetragen hatte. (Ähnlich wie Zola in der Dreyfusaffaire wurde Masaryk zwar verurteilt, sein Eintreten führte aber letzien Endes zur Revision eines Fehlurteiles, das sonst leicht ein Justizmord gewesen wäre.) Die Verteidigung eines südslavischen Abgeordneten im kaiserlichen Parlament: Die Bestrebungen der gewählten Vertreter der südslavischen Bevölkerungsteile um nationale Autonomie hatten ihnen den Vorwurf des Hochverrates eingetragen. Die Verteidigung Friedrich Adlers, der im dritten Kriegsjahr den österreichischen Ministerpräsidenten erschossen hatte. Adler verantwortete seine Tat 16 _ ZWISCHENWELT damit, dass Österreich gegen den Willen seiner Völker durch einen Verfassungsbruch in den Krieg getrieben worden war. Adler wurde zum Tode verurteilt, vom letzten Kaiser begnadigt und nach Kriegsende in Freiheit gesetzt. Persönlichkeit und Stellung meines Vaters brachten mich von früher Jugend mit bedeutenden Persönlichkeiten der Kriegs- und Nachkriegsepoche, Staatsmännern, Gelehrten und Künstlern in Verbindung. Dieser Verkehr bleibt sicherlich für meine spätere Entwicklung von Einfluss, am bleibendsten wohl der Verkehr mit meinem Vater selbst, einem in jeder Beziehung souveränen Geist, dessen Färbung sich weder politisch, noch philosophisch in eine allgemeine Categorie einordnen lässt. Was mir von ihm dominierend in Erinnerung geblieben ist, war die Beherrschtheit seines Denkens und Handelns von Rechtsvorstellungen. Wobei er als nimmermüder Verfechter socialen und kulturellen Fortschrittes Hingabe ans Recht mit stets wachem Verständnis für die Lebendigkeit und Beweglichkeit des Rechtes zu verbinden verstand. So lernte ich, Recht nicht im Sinne starrer Verteidigung, sondern beweglicher Fortbildung ansehen. Die Gründung der kleinen Republik Österreich aus den Trümmern des zerfallenen Habsburgerreiches brachte für einige Zeit die geistigen und politischen Kreise an die Macht, deren Förderung mein Vater ein Leben lang gedient hatte. Sie schob auch meinen Vater an die Spitze staatlicher und juristischer Institutionen. Das Schicksal hat ihm erspart, den einstweiligen Zusammenbruch einer Welt zu erleben, deren Aufbau er sein Leben gewidmet hatte. In die skizzierte Zeit fielen meine Hochschuljahre. Zwei geistige Eindrücke der Wiener Universität scheinen mir der Erwähnung zu bedürfen: In Dingen der Nationalökonomie die sogenannte „österreichische Schule“ oder auch „Grenznutzenlehre‘, eine Spätblüte liberalistischer Wirtschafistheorie. Wenn ich mich auch seither von den Lehren des Liberalismus wesentlich abgekehrt habe, verdanke ich ihrer Schulung doch eine ziemlich gleichmäfiige Bildung in nationalökonomischer Theorie. In Dingen der Rechtsphilosophie gewann der damalige Inhaber des Lehrstuhls für Staatsrecht und Sociologie, Hans Kelsen (später Professor an der Genfer Völkerbunduniversität, derzeit Lehrer an der Universität Californien [Berkeley, Anm.]), einen bleibenden Einfluss. Kelsen, der ein Freund meines Vaters war, hat damals die Grundsteine einer Lehre gelegt, die er später — wie ich meine: großartig — ausgebaut hat. Eine Lehre, als deren geistiges Kind ich auch dieses Buch bezeichnen möchte, soweit Kelsen selbst es nicht verleugnen oder gar verstoßen sollte. An meine Lehrjahre schlossen sich 15 Jahre intensiver Praxis in der mir nach dem frühen Ableben meines Vaters angefallenen Anwaltskanzlei an. Für nicht mit österreichischem Rechtswesen vertraute Leser darf hinzugefügt werden: österreichische Anwaltschaft war sowohl territorial, als auch sachlich viel unbegrenzter als der Anwalisberuf in anderen Ländern. Mit englischen Verhältnissen verglichen, umfasste sie den Wirkungskreis etwa des Barristers, Solicitors, und des Chartered Accountants. Mein persönlicher Wirkungskreis — von der politischen Verteidigung bis zur Wirtschaftsberatung reichend — brachte mich mit führenden Männern sowohl des politischen als auch des Wirtschaftslebens in Berührung. Und zwar nicht nur in meinem, klein gewordenen, österreichischen Heimatlande; sondern auch in den meisten anderen Ländern des Kontinents vor allem den sogenannten Nachfolgestaaten. Meine in diesem Buch vertretenen Ansichten sind daher von freund- und feindschaftlichen Auseinandersetzungen mit Personen beeinflusst, die als Protagonisten auf der Bühne der Geschichte der Zwischen