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kriegszeit in mehr oder minder prominenter Rolle mitgespielt haben. Viele Jahre vor meiner Emigration hatte ich schon mit dem Wunsche gekämpft, meine im Folgenden vertretenen socialphilosophischen Anschauungen in Buchform niederzulegen; ein Wunsch kaum beherrschbar geworden, seit mich die Überzeugung durchdrang, dass die Welt unaufhaltsam der Katastrophe eines zweiten Weltkrieges zutrieb, ohne es zu bemerken. Es dient vielleicht zur Charakterisierung einer Frühreife meiner politischen Ahnung, wenn ich einige Sätze aus einem Brief an meine Frau zitiere, den ich so weit zurück als Mai 1925, also vor 18 Jahren aus Berlin schrieb. Dabei ist es mir in Wahrheit weniger darum zu tun, meine politische Frühreife zu belegen, als das kurze Gedächtnis meiner Mitmenschen für politische Eindrücke zu illustrieren. Anwaltliche Verhandlung hatten mich damals, also ca. 14 Jahre vor Kriegsausbruch gerade an jenem Tage nach Berlin geführt, an welchem Hindenburg sein Amt als eben gewählter deutscher Präsident antrat; und dies waren meine Eindrücke: „...Berlin? Ist hässlich und beschäftigt sich nur mit Hindenburg. Gestern wurde Einzug gefeiert. Lauter Hakenkreuzler. Das Straßenbild sah aus wie zu Kriegsbeginn. Uniformierte, statt mit Gewehren mit Stöcken bewaffnet, durchzogen die Straßen, Fahnen mit Hakenkreuzen schwenkend, Lieder singend und das Volk jubelte, dass einem die Gänsehaut über die Hakennase lief. Heute — Beeidigung im Reichstage, Amtsübernahme — sah es aus wie zu Kaisers Geburtstag. Lauter glänzende (wahrscheinlich Kriegs) Uniformen, Militärs mit Ordensbrüsten, Bewachung der Strafen, Fahnen. DAS IST KEIN FRIEDENSVOLK! DAS MUSS FRÜHER ODER SPÄTERWIEDER DER STECHSCHRITT REGIEREN, SCHREIEN UND MORDEN! Jetzt habe ich sie einmal in ihrem Berlin gesehen! Und ich verstehe die Weltgeschichte noch um ein Haar besser ...“ Dreizehn Jahre später, im März 1938 zog Hitler in Wien ein. Zu Folge [sic!] Stellung und Einstellung war ich unter jenen, die schon im März in Haft genommen wurden; doch gelang es Freunden, mich nach wenigen Tagen zu befreien. Der Befreiung folgte bald die Flucht in das englische Asyl. Im ersten Emigrations- und letzten „Friedens“-jahre war ich noch zu sehr von der Aufgabe erfüllt, Freunden und mir selbst aus dem Zusammenbruch einer verlorenen in eine neue Welt zu verhelfen, als dass ich mich an die Ausführung meines Vorsatzes machen konnte, dieses Buch zu schreiben. Die Liquidation meiner alten Existenz führte mich bis knapp vor Kriegsausbruch noch mehrmals auf den Kontinent zurück. In ein ahnungsloses oder — verdrängendes Paris; nach Brüssel, wo sich die Erinnerungen an die Jahre der Erniedrigungen des Ersten Weltkrieges mit der Furcht vor der ärgeren Wiederkehr ähnlichen Erlebens mischten. Zu schweizer Freunden, die aufrecht und mit der Urteilssicherheit von Angehörigen der wahrscheinlich politisch reifsten Nation keine Gefahr der Welt und ihrer eigenen Lage verkannten. Und schließlich nach Prag, das ich knapp vor dem Klimax der tschechischen Tragödie dank Glück und Zufall am Tage vor Hitlers Überfall mit dem letzten Flugzeuge verlassen konnte. Alles Erlebnisse, die für mein heutiges Denken von tiefem Einflusse geblieben sind. Vor allem der Umstand, dass mich mit der europäischen Tragödie eine intime Kenntnis vieler Schauplätze, sowie viele freundliche und feindliche persönliche Beziehungen verknüpfen. Womit ich ausdrücklich zugestehen will, dass mein Urteil, trotz meiner redlichen Bemühung zum Gegenteile nicht nur rationell, sondern auch emotionell bedingt ist. Bedingt durch Erinnerungen an Erlebnisse, Städte und Menschen. Wie etwa an jene, für die Welt nicht minder, als für mich schicksalsschwere Nacht, in welcher zuerst Schuschnigg von Österreich Abschied nahm, und dann jene wilden Horden in meine Vaterstadt einbrachen, die ich schon 13 Jahre früher bei ihrer Vorbereitung durchschaut hatte. Oder die Erinnerung an jenen Nachmittag kurz nachher, an welchem ich von der Gestapo aus meinem Büro in ein Gefängnis verschleppt wurde. Dann an den Abschied von Stadt und Land meiner Heimat, an die letzte Fahrt durch die, trotz Allem von der Sonne beschienenen Berge, mir trotz Allem lieb und lieb geblieben. Und später noch ein zweiter Abschied: mein letzter Tag in einem von Schnee und Sonne verklärten Prag, für mich in einen letzten Abend bei Smetana‘ leuchtender Nationaloper mündend! Und im Dunste des nächsten Morgens auf die 1000 Giebel der Stadt, der verkauften Braut von morgen! Mit Kriegsausbruch zog ich mich in die Stille von Cambridge zurück, in die Atmosphäre einer Stätte, die ihren körperlichen und geistigen Charme zu schenken hat, wie nur die erlesensten Plätze des einstweilen versunkenen Kontinents. Hier war mir vergönnt, was ich vorher erlebt und gedacht, zu verarbeiten. Zu verarbeiten auch anhand des Denkens und Erlebens anderer, deren Früchte mir die reichen Bibliotheken darboten. Und zu versuchen zu verarbeiten, was der donnernde Gang der Geschichte an Dramen hinzufügt. Schließlich auch den gewaltigen Eindruck englischen Wesens, Wirkens und Denkens, besonders in der juristisch-socialen Sphäre so schr verschieden von Allem, was vorher auf dem Kontinent auf mich eingewirkt. Das Ergebnis ist in diesem Buche niedergelegt. Darin trete ich dafür ein, dass die Welt nur genesen kann, wenn sich die Demokratie dazu aufraffi, ihre ehemalige, ganz eigentümliche Methode socialer Organisation dogmatisch zu fixieren; dabei aber gleichzeitig ihr politisches Glaubensgebäude an Haupt und Glieder reformierend. Während und nach dem Weltkrieg setzte sich Otto Harpner für die Idee eines „internationalen und interdemokratischen Rechts“ und für ein befreites, demokratisches Österreich ein. Otto Harpner arbeitete aktiv bei der Austrian Democratic Union, der Study Group of Austrian Lawyers in Great Britain, der österreichischen Sektion der New Commonwealth Society of Justice and Peace, der Anglo-Austrian Society und der Anglo-Austrian Music Society mit. Er schrieb Artikel, hielt Vorträge über Österreich am United Nation Center der London University und verfasste 1943 für die New Commonwealth Society das unter Juristen für Aufregung sorgende Draft Statute for the Establishment of a Legal Machinery to Effect Peaceful Chances of International Situation. Die Rolle der New Commenwealth Society, gegriindet 1932 von Lord Davies, um ,,the promotion of international law and order“ zu fördern, als Vorläuferorganisation eines neuen Völkerbundes, der UNO eben, und die Rolle von ExilantInnen wie Otto Harpner als ihre Ideengeber und Mitarbeiter wären sicher noch wichtige, der Untersuchung harrende Gegenstände der Exilforschung. Stefan Harpner hat der Theodor Kramer Gesellschaft neben den Internierungstagebüchern seines Vaters auch dessen gesamten Nachlass (eineinhalb Laufmeter Material) zur Verfügung gestellt. Er enthält Korrespondenzen mit Hans Kelsen, Oscar Pollak, Emil Müller-Sturmheim, Julius Meinl, Franz Rudolf Bienenfeld, Wilhelm Ellenbogen, Friedrich Otto Hertz, Eva Kolmer, mit Familienmitgliedern und vielen anderen, sowie etliche Manuskripte für Zeitungsartikel und Vorträge. Beim Lesen erfährt man, dass Otto Harpner nicht nur geschrieben und sich politisch engagiert, sondern auch einen wesentlich profaneren Beitrag zur Befreiung Europas geleistet hat: Indem er nämlich den Dienst des Zug-Buchhalter am Rangierbahnhof Februar 2011 17