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in Cambridge/Histon ausübte. Stefan Harpner erinnert sich, dass es deswegen zu Weihnachten immer Marmelade der nahen Chivers Fabrik gegeben habe. Auch das Verladen der mächtigen Percheron-Pferde habe ihn als Kind tief beeindruckt. Nach 1945 wird Otto Harpner nicht nach Österreich zurückkehren, dafür engagiert er sich in der Anglo-Austrian Society”, welche in den folgenden Jahrzehnten den Austausch tausender SchülerInnen zwischen den beiden Ländern ermöglichen wird. 1947 wird Otto Harpner Generalsekretär dieser 1946 gegründeten Society und bleibt bis zu seinem Tod in dieser Funktion. Dies geschah, nachdem er sich erfolglos bemüht hatte eine seinem politischen Engagement entsprechende Stellung von der neuen österreichischen Regierung zu bekommen. Doch nicht einmal sein „alter“ Freund Karl Renner konnte oder wollte ihm dabei helfen. In Österreich konnten Otto Harpner und sein Wirken nicht vergessen werden, da sie nie bekannt wurden. In den meisten Büchern über das Exil in Großbritannien erscheint sein Name, wenn überhaupt, nur am Rande. Dafür gibt es in Großbritannien Otto Harpner Tagebuch der Internierung Sonntag den 12ten/V. abgeholt von Polizeibeamten in Civil in die Guildhall gebracht; dort etwa 150 andere Herren zw. 16 und 60ig getroffen. Polizeichef teilt mit, daß wir alle interniert werden. % Stunde in die Wohnung gebracht; Abschied. Fahrt mit dem Bus über Ipswich nach Bury St Edmunds, 26 Meilen weit. Dort nach vielen Stunden Warten in ein Lager gebracht (Gibraltar House des Suffolk Reg.). Geld und Dokumente weggenommen. Tee; Nacht ca. 2h zwei Baracken; bloßer Boden; je zwei Decken. 13./V. Reger Betrieb am Morgen. In der Nacht stehen zwei Wachen mit aufgepflanztem Bajo[nett] im Raum; eine Wache begleitet auch zum W.C. (im Freien). Waschen bei 2 Hähnen im Freien. Es beginnt ein lebhafter Universitätsbetrieb. Ich lerne kennen: 2 Astronomen, Assistenten der Sternwarte in Cambridge (A.) Brück und Archenhold! Einen Embryologen (2), zwei Frauenärzte (Schiller J., Bauer J.), Taussig aus Linz (herzkrank 4 x im Gefängnis), Journalist Freudenfels aus Wien (Gerichtssaalberichterstatter, Mutter in Italien ausgewiesen, 3 Monate im K.Z. Schweiz, jetzt Belgien. Sohn im K.Z.). Dr. Eirich, Dr. Max Perutz sind auch da. Dr. Ahrens (Frau Friesin), Dr. Schloß (wohlb[ekannter] Wissenschaftl[er]?), Prof. Benesch, Kustos der Handzeichnungssammlung der Albertina, hat im Museum gearbeitet. Prof. Rottenberg Vater und Sohn. Prof. Deutsch (Musikhistoriker), Dr. Monath. Merkwürdige Erscheinungen: Pastor Hildebrandt, Rabiner Ehrentreu (München), polnischer Jud Haskler; spricht perfekt aber ebenso unmöglich englisch. Ein 16jähriger Bub Benn Jokei aus New Market — so schaut 5th Column aus! Einige sind aber doch verdächtig: Bussmann (Bibliothekar?) ein Mann vom Typus des Detektivs der Gest[apo]: Lissmann; der Pastor. Das Präsidium übernimmt Dr. Mayer vom Flüchtlingskomitee in C[ambridge]. Nach seiner Abreise (er wird entlassen, weil sein Schiff Mittwoch nach USA geht) 5 Herren Dr. Bach (nett. Biolog), der Pastor, der Rabiner Dr. Schloßmann. Über 18 _ ZWISCHENWELT den Otto Harpner Fund, in memoriam von der Anglo-Austrian Society gestiftet. Dieser ist zur Finanzierung von Stipendien für Sprachkurse und für Forschungsprojekte geschaffen worden, „to encouraging cultural exchange between the UK and Austria“. Anmerkungen 1 FH. Hinsley and C.A. G. Simkins: British Intelligence in the Second World War. Security and Counter-Intelligence. London 1990, 32. 2 vel. Siglinde Bolbecher: Exilbedingungen und Fxilkultur in Großbritannien. In: Fxil in Großbritannien. Wien 1995 (Zwischenwelt 4; Francois Lafitte: The Internment of Aliens. London 1988; Helene Maimann: Politik im Wartesaal. Österreichische Exilpolitik in Großbritannien 1938 bis 1945. Wien u.a. 1975. 3 Ilse Reiter: Gustav Harpner (1864 — 1924). Vom Anarchistenanwalt zum Anwalt der Republik. Wien u.a. 2008. 4 Otto T. Harpner: Typoskript ohne Titel. 2 Bde., Cambridge 1942/1943. (DOW/Exil 07286). 5 siehe Frederick Scheu: The Early Days of the Anglo-Austrian Society. www.angloaustrian.org.uk/documents/The_Early_Days.doc (9.12.2011). Verlangen der Studenten deren Vertrauensmann Dr. Lippstein (ein Fellow aus einem C[ambridge] College). Einige Kranke werden abtransportiert! Dafür kommen viele Nachzügler! Darunter auch ein Enkel des Kaisers W[ilhelm] „Baron von Lingen“ mit einem jungen Grafen Etzdorf; wohnt in einem Verschlag; macht sonst alles mit. Schr nett Dr. Calm, ein deutscher Rhöntgenolog.Dienstag 14/V. gibt es schon Vorlesungen: ich höre eine Klasse Undergraduates von der London School of E[conomics] (besonders nett Gerson, Mosse, Morberg, Peisen; nicht nett Braunthal). Es gibt auch eine Klasse ftir Mathem|[atische] Naturwissenschaften. International Law (Lippstein). Nachmittag Spaziergang mit Fußball; sehr netter 2nd Leutnant (20j. schr versiert Plausch), lese Pickwick [Charles Dickens‘ erster Roman, „Ihe Pickwick Papers“; der Roman handelt von den Abenteuern des „Englandforschers“ Samuel Pickwick und seines Klubs] schwer erträglich und Freud: Psychopath|ologie] des Alltags[lebens]. Man bekommt etwas Geld zurück und kann sich Obst und dringende Sachen kaufen. Mittwoch es werden Sprachkurse arrangiert: ich nehme eine Englischst[unde] zus. mit Schiller, Monath, einem Berliner Anwalt und zwar bei einem schr netten jungen Mann Arndt. Sehr geschickt. Gerson hat eine lustige franz. Kl[asse]. Die Jugend ist trotz schlechter Nachrichten munter: singt und macht Witze. Wir Alten sind eher bedrückt! Wir hören täglich 4x News; bekommen Zeitung. Vortrag über internat. Law und Prisonrechte. Vortrag über Embryologie. Spaziergang! Donnerstag 16/V.: Nachricht, daß noch keine Korrespondenz erlaubt; aber Wünsche nach Paketen entgegengenommen werden können. Die Organisation verbessert sich! Wir bekommen Strohsäcke und weitere Decken! Die Jugend hilft beim Erdäpfelschälen, waschen etc. Die sanitären Vork[ehrungen] sind elend! Viele erkranken leicht; einige auch ernster: Prof. Deutsch ein scheußlich aussehendes Ödem; andere Grippe, Krätze (vom Stroh); Gürtelrose. Schiller hilft beim Behandeln. Kabinettskrise