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Sonja PleBl Bitte mit Fieber »Fahrscheinkontrolle!“ Erleichtert blicke ich auf. Dieser Samstagmorgen beginnt mit einem netten Menschen. Dessen Kontrollgang hat bald ein Ende. Er setzt sich zu mir. „Fahren Sie heute zur Uni?“ „Nein, zu WEN DO.“ Erstaunt stelle ich fest, dass ich innehalte. , WEN DO ist Selbstverteidigung von Frauen für Frauen. Kommt aus Kanada“, füge ich bestimmt hinzu und schaue dem netten Schaffner in die Augen. „Oha. Da muss man sich fürchten!“ Ich klappe meine Geldbörse zu. „Als Mann hat man es ja schwer. Manche Frauen wollen nicht, andere warten nur darauf.“ Der also auch! Die Steinplatten in unserem Waldviertler Acker sind weniger unverwüstlich als das männliche Glaubensbekenntnis. „Wenn Sie die Tür nicht zusperren, heißt das dann, dass man einbrechen darf?“ Erstaunt drehen wir uns beide um. Eine Frau sieht uns an. Ihr gepfefferter Blick beginnt in meinem Gesicht zu grinsen. Toller Satz! Der Schaffner macht sich verdutzt an seinen zweiten Kontrollgang. Noch eine Stunde bis Wien. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Die Frau kommt aus Tschechien. Sie heißt Marta. Meine tschechische Brieffreundin hatte den gleichen Namen. Wie oft hatte Opa uns gebeten, mit ihm nach Tschechien Beerenpflücken zu fahren. Mama hatte jedes Mal abgelehnt: Dort drüben kennen wir uns nicht aus! Ich erzähle Marta von einer kürzlich veröffentlichten Studie: Noch heute, zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, machen Wildtiere vor der unsichtbaren Grenze kehrt. „Sie sagten, aus der Gegend von Cheb und Karlsbad kommen Sie?“, frage ich, während ich an Frauen in Glasvitrinen denke. Mein Ex war als Fernfahrer auf seiner Route nach Skandinavien jahrelang durch Tschechien gefahren, und ich manchmal mit. Beim heurigen Weihnachtsfest hatte mir ein Mann aus meinem Dorf erzählt, die Lehrlinge würden drüben in Pufts feiern. Sie erwidert meinen Blick. „Ja, das hat nach der Wende begonnen. Das totale Angebot für die totalen Kunden. Ich habe einen Bus aus Deutschland gesehen. Aufschrift: Fücken-Tour.“ Sie arbeite für ein Forschungsprojcekt, recherchiere im Milieu. In Schweden seien die Freier seit 1999, in Norwegen und Island seit 2009 kriminalisiert. „Die Freier, nicht die Prostituierten!“ Der Zug hält. Unsere Sitznachbarn stehen auf. Marta lässt ihren Blick durch den Waggon schweifen. „Im Norden sagt man: Männer müssen sich an die Idee gewöhnen, dass sie Sex nicht kaufen können.“ Das nordische Modell biete Prostituierten Unterstützung an. Ein estnischer Journalist habe Schweden vorgerechnet, außerhalb Skandinaviens sei für derlei Luxus kein Geld da. Der Karl-MarxHof nähert sich. Marta bietet mir an, sie zu besuchen. Sie wohnt in einem Dorf im Grenzgebiet zur Slowakei. Anfang März treffe ich mich mit meiner französischen Freundin in Bratislava. Auf halbem Weg mache ich halt und besuche Marta. Auf der Uni läuft gerade ein Seminar über Frauenhandel. Ich möchte Martas Meinung zur freiwilligen Prostitution hören. Martas kleine Tochter zeigt mir einen Baum im Garten, deutet auf die Hand. Fünfschlanke Finger umschlingen den Ast. Fasziniert knipse ich die von der Wintersonne geformte Schneeskulptur, lege meine Hand an die Rinde des Baumes: „Ich mag Bäume. Die Kelten wussten, was sie taten. Die haben Bäume verehrt“, sage ich zu Marta. „Ja“, antwortet sie. An der Terrassentür dreht sie sich um: „Ich frage mich, was Bäume schon alles geschen haben.“ Die Tochter beginnt ihren Mittagsschlaf, wir setzen uns ins lichtdurchflutete Wohnzimmer. Vor der Terrasse vertreibt eine Taube die Spatzen vom Futterhäuschen. „Hast du bei deinen Recherchen keine Angst?“ „Um meine Tochter. Um mich nicht mehr.“ Sie erzählt von der Isländerin Gudrun Jönsdöttir von Stigamot, deren Töchter Todesdrohungen erhielten, als sie den Kampf für die Abschaffung der Prostitution anführte. „Frauenkörper sind wiederverwendbar. Das ist der Unterschied zu Drogen. Geringes Risiko, hohe Gewinne.“ Marta bringt Kaffee, nimmt ihre Schirmmütze ab. „Meine Mutter war eine Regimekritikerin. Sie arbeitete in einem Verlag, hatte Kontakte zu deutschen Schriftstellern. Deshalb konnte ich nicht studieren. Über meinen Vater gibt es nichts zu sagen. Er warf mich nach ihrem Tod aus der Wohnung. Das war das Jahr der Wende. Mein Gehalt in Cheb hätte niemals für eine eigene Wohnung gereicht. Ich verliebte mich in einen Mann. Geld, Auto, Haus, ein Märchenprinz. Nach dem zweiten Rendez-vous war ich seine Leibeigene. Bei einem Lokalfürsten schauen alle weg. Der erste Fluchtversuch scheiterte. Er schleppte mich mit einem Strick zu einem Baum. Simulierte meine Erhängung. Nach zwölf Monaten glückte der zweite. Ich denke oft an Natascha Kampusch. Er ließ mich mit der Polizei suchen.“ „Polizei?“ „Ich musste weg. Über eine Agentur ging ich nach Österreich, arbeitete in einer Bar. Ein Club in der Grenzregion. Zu Beginn war alles normal. Als mein Touristenvisum ablief, verkauften sie mich. Vergitterte Räume. Kein Tageslicht. Drei Monate lang. Man muss eine gute Schauspielerin werden. Die Frau neben mir muckte auf. Sie haben sie mit einer zerbrochenen Glasflasche vergewaltigt. Eine Frau verhalf mir zur Flucht. Aber ich wusste keinen Ausweg. Zurück nach Tschechien konnte ich nicht. Also ging ich ins Edelbordell. Freiwillig. Das war in einer Landeshauptstadt. Roter Teppich. Die Fotos der Eröffnung zeigten die Lokalprominenz samt Gattinnen. Von allen Frauen dort war nur eine aus Österreich, und die arbeitete wie verrückt am Ausstieg. Wenn du dich als Schulmädchen inszenierst, bezahlen sie mehr.“ „Wer?“ „Bauern, Mechaniker, Polizisten, Ärzte, Lehrer, Männer der Freiwilligen Feuerwehr am Land, im Edelpuff Wissenschaftler, Politiker, Richter, Autoren, Schauspieler, die Herren von Welt. Ich drehe Seitenblicke auf und...“ Sie verstummt. „Für Heiße Liebe bezahlen sie mehr. Wenn man Fieber hat, fast ohnmächtig ist. Dornröschenschlaf, bio pur. Ganz ohne k.o.- Tropfen.“ Martas Schwiegervater kommt zur Tür herein, legt die Zeitung auf den Tisch. Julia Kührer aus Pulkau ist seit vier Jahren verschwunden. Sonja Pleßl, geboren 1976, studierte Übersetzen und Politikwissenschaft in Wien und Paris mit Schwerpunkt Geschlechtergleichstellung, nordische Wohlfahrtsstaaten, Antisemitismus; spricht Englisch, Französisch, Norwegisch, Russisch; Auslandsaufenthalte in Belgien und Norwegen; Studium der Skandinavistik; Emigration nach Kanada; leitet privates Hilfsprojekt für das Kindertuberkulosekrankenhaus in Charkov, Ukraine; lebt im Waldviertel.- Schreibt Essays und Prosa; 2010 in der Anthologie zum Forum Land Literaturpreis vertreten. Februar 2011 23