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Florian Müller In ihrer neuesten Publikation „Ghosts of Home: The Afterlife of Czernowitz in Jewish Memory“ beschreiben Marianne Hirsch und Leo Spitzer eindrucksvoll, wie eine virtuelle Community die Geschichtsforschung verändert und was passiert, wenn diese Community beschließt, auch physisch an den von ihnen erforschten Ort, nach Czernowitz, zu reisen. Auf Einladung des Doktoratskollegs „Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe“ waren die beiden Ende Juni in Wien, haben das Buch vorgestellt und sich den Fragen und der Diskussion mit den Studierenden gestellt und auch ZW mit einem Interview bedacht. Marianne Hirsch, geboren 1949 in Timioara (Rumänien) als Tochter einer Czernowitzer jüdischen Familie, ist Professorin in der Abteilung für Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaft und am Institut für Frauen- und Genderforschung der Columbia University (New York). In ihrer Publikation „Family Frames“ hat sie sich vor allem mit dem Foto als historischer Quelle auseinandergesetzt. Leo Spitzer, geboren 1939 in La Paz (Bolivien) als Sohn einer jüdisch-österreichischen Familie, ist emeritierter Professor für Geschichte am Dartmouth College. Seine bekannteste Publikation ist: „Hotel Bolivia“, in der er sich mit der Geschichte der österreichischjüdischen Community auseinandersetzt, die nach Lateinamerika fliehen musste. Warum beschäftigt sich eine Literaturwissenschafilerin mit dem Thema Postmemory? Ist das nicht nur etwas für Historiker? Hirsch: Memory Studies ist ein neues, sehr interdisziplinares Fach. Da gibt es Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker, Psychologen, Psychoanalytiker, Soziologen, Architekten, Museologen, die sich dafür interessieren, und auch Historiker. Und die Frage ist: Warum? Warum spricht man am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts so viel über Erinnerung und Gedächtniskultur? Erstens glaube ich, dass uns das Interdisziplinäre alle anzieht. Zweitens glaube ich, dass sich Ende des 20. Jahrhunderts all diese Katastrophen überschichten. Im Begriff „Geschichte“ gibt es etwas Unzulängliches. Man braucht etwas, das mehr mit Affekt, mit Gefühlen zu tun hat. Das mit dem Körper zu tun hat, der durch den Raum geht. Bisher befasste sich die Geschichte cher mit Archiven. Und in diesen Begriffen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ treffen sich unsere beiden Fächer und Literatur ist ja auch ein Instrument der Erinnerung. Und ich glaube, durch dieses Interesse an Erinnerung und Trauma kann Literaturwissenschaft erst richtig politisch werden. Die Homepage czernowitz.ehpes.com setzt bewusst auf das Engagement von nichtakademischen Laien. Was bringt das für die Forschung? Hirsch: Anfangs haben wir das nicht so ernst genommen. Leute, die reges Interesse haben, entdecken mit dem Internet aber ihre Möglichkeiten zur Forschung. Mittlerweile sind sie Partner unserer Forschung geworden. Sie kennen vielleicht nicht die Theorien, sind aber motiviert und leidenschaftlich und finden so ganz fantastische Sachen. Spitzer: Das Internet hat auch professionellen Historikern viele Tore geöffnet. Zum ersten Mal werden private, individuelle 26 _ ZWISCHENWELT Archive gescannt und online gestellt: Dokumente, hunderte Fotografien. Das hat unsere Quellen auf unglaubliche Weise erweitert. Sie selbst haben einen persönlichen Zugang zu ihrem Forschungsthema. Ihre Publikationen haben einen sehr stark narrativen Charakter. Sieht man sich da Angriffen von anderen Wissenschaftlern ausgesetzt, die meinen, Geschichtsschreibung habe ausschließlich aus Fakten zu bestehen? Spitzer: Die Auffassung von Geschichte erweitert sich langsam gegen einen gehörigen Widerstand altmodischer Ansichten. Ich denke, diese wurden durch die Ausweitung der Materialien ohnehin unterminiert. Wir nützen bisher noch nicht viel verwendete Quellen wie Oral History oder Fotografien und suchen jetzt nach einer Methodologie, sie einzubauen. Die Herausforderung liegt darin, eine Geschichtsschreibung der Auslassung persönlicher Kommentare zu überwinden und den Wert des Zugangs eines Historikers zu betonen. Dem Leser oder dem Zuhörer mache ich meine persönliche Verwicklung in das Thema bewusst sichtbar. Bald stehen wir vor der Herausforderung, Shoah-Forschung zu betreiben, ohne dabei die Hilfe von Zeitzeugen zu haben. Das jüdisch-deutschsprachige Czernowitz, das Sie erforschen, existiert schon lange nicht mehr. Ist Czernowitz ein geeignetes Feld, um sich mit Postmemory-Fragen auseinanderzusetzen? Hirsch: Es ist ein schr gutes Feld. Bereits meine Eltern haben die Welt ihrer Eltern und Großeltern als Postmemory erlebt. Und der habsburgische Czernowitz-Begriff hat sich ironischer Weise von Generation zu Generation verstarkt. Die Frage ist: Wie ist das zu bewerten, dass die Menschen in der Zwischenkriegszeit großteils ignoriert haben, dass sie in Rumänien leben und so getan haben, als würden sie noch im alten Österreich leben? In unserem Buch schen wir das nicht als Nostalgie, sondern als Widerstand gegen die Rumänisierung, gegen das Verlieren der Rechte aus der Habsburger-Monarchie, gegen Antisemitismus. Natürlich war auch ein gewisser kultureller Chauvinismus dabei, der Westen ist besser als der Osten. Es ist natürlich ironisch, das Deutsche als Widerstand gegen den Antisemitismus zu benützen. Die Täter der Shoah im Zweiten Weltkrieg leben heute nicht mehr in Czernowitz. Erschwert oder erleichtert das die Aufarbeitung? Spitzer: Was ich interessant finde, ist, dass die Leute die Rumänen anprangern, die Ukrainer anprangern. Auf unserer Reise waren das Ziel der Aufschreie meist die Ukrainer. Es ist schon faszinierend, dass es ein derartiges Misstrauen nicht gegen die Deutschen gibt. Hirsch: Die Schwierigkeiten in der Arbeit ergeben sich durch Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die Ukrainer wollen etwa nicht über rumänische Geschichte sprechen. Als wir ein chemaliges Lager in Transnistrien besuchten, sagten die Ukrainer dort, dieses Gebiet war niemals rumänisch, war niemals von den Nazis besetzt, es habe immer schon zur Sowjetunion gehört. Oder dieser rumänische Bürgermeister Iraian Popovici, der viele Juden gerettet hat, er ist in der Stadt nicht bekannt. Dazu kommt, dass die Archive in so vielen Sprachen sind und in Wirklichkeit müssten wir auch die sowjetischen Archive studieren, um ein umfassenderes Bild zu bekommen.