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In Ihrem Buch geht es auch um einige Reisen nach Czernowitz. Wie wichtig ist es, an einem Ort zu sein, um ihn zu erforschen? Hirsch: Für uns war eine Reise der Auslöser für das Buch. Es fasziniert diese physische Präsenz von Czernowitz, die aber in der Mentalität der jetzt dort lebenden Menschen so weit weg ist. Dieses Paradoxon war Auslöser für unsere Arbeit. Weil wir Zeitzeugen wie meine Eltern mitgehabt haben, waren wir Zeugen der Zeugen und das hat sich auch auf uns ausgewirkt. Spitzer: Wir kennen die Bilder von der zerstören Synagoge, aber das Faszinierende ist, dass das historische Czernowitz im Krieg kaum zerstört wurde. Die Gebäude aus der HabsburgerMonarchie stehen großteils noch. Als wir mit Mariannes Eltern durch Czernowitz gingen, taten wir das mit einem historischen Plan. Manche haben die Häuser neu gestrichen, aber selbst das in den imperialen Farben. Viele Quellen des jüdischen Lebens wie etwa Fotos stammen aus dem jüdischen Bürgertum. Ergibt diese Quellenlage ein Ungleichgewicht in der historischen Darstellung? Wie kann man mehr über die jüdische Arbeiterklasse erfahren? Hirsch: Ich glaube, das mit den Fotos ist nicht so. Von vielen ärmeren Kindern gibt es Schulfotos, es gibt Klassenfotos, es gibt Fotos aus Jugendverbänden, da waren vor allem nichtbürgerliche Kinder dabei. Natürlich, die Fotos aus der Herrengasse oder die in einem Studio aufgenommen wurden, sind aus einer höheren Schicht. Aber in der Habsburger-Monarchie musste jeder in die Schule gehen, auch wenn es nur fünf, sechs Klassen waren. Mit der Postmemory-Forschung zeichnet sich auch ein Generationswechsel ab. Welches neue Bild auf die Geschichte kann dieser Generationenwechsel bringen? Hirsch: Meine Generation, die zweite Generation, hat die Funktion eines Türhüters: Man kann nur so schreiben, aber nicht so, man kann nicht für die Überlebenden sprechen, dass man diese Distanzen respektieren muss. In der dritten Generation sche ich eine Homogenisierung der Generationen und des Wissens. Ich denke also, die Generationsunterschiede werden sich ausgleichen und der Unterschied zwischen Fiktion und Geschichte wird schwinden. In Facebook wurde die Biographie von Henio Zytomirski rekonstruiert und das Opfer der Shoah als User „reanimiert“? Wir haben vorher über die Vorteile des Internet gesprochen, aber wo sind seine Grenzen? Hirsch: Ich sche es cher als pädagogisches Problem denn als ethisches. Diese Aktion blendet die Tatsache aus, dass dieser kleine Bub getötet worden ist. Ich habe ja versucht, sein Freund zu werden, aber er hat schon zu viele Freunde. Denn wenn du sein Freund auf Facebook werden kannst und ihm schreiben kannst, dann wird er reanimiert. Ich habe auch gehört, dass Lehrer Facebook verwendet haben, damit Schüler Briefe an Anne Frank schreiben können. Das ist ein Ignorieren der traurigen Wirklichkeit. Viele Leute, die sich mit dem historischen Czernowitz auseinander setzen, interessieren sich nicht für das heutige, ukrainische Tscherniwzi. Und die heutigen Ukrainer interessieren sich nicht für das jüdische Czernowitz. Wie kann man da Brücken schlagen? Spitzer: Das ist eine zentrale Frage: Wie kann man das Bewusstsein unter den heutigen Bewohnern wecken? Die Verantwortung dafür trägt das Bildungssystem, das dort heute ist. Man muss Materialien einbringen, die es ermöglichen, dass Studenten heute ein breiteres Bild der Geschichte bekommen können. Wenn die Ukrainer nur über die Ukraine sprechen und die Juden nur über die Juden, dann wird sich das niemals ausweiten. Der jungen Generation muss es ermöglicht werden, ihr Verständnis über die Vergangenheit zu erweitern. Hirsch: Wie überwindet man Nationalismen? Das muss ein Dialog sein. Wenn Juden schen, dass anerkannt wird, was sie erlitten haben, dann werden sie auch bereit sein, sich mit den Ukrainern zu befassen. Florian Müller, geboren 1977 in Wien, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien, Valenciennes (Frankreich) und Buenos Aires (Argentinien) mit den Sprachen Spanisch, Portugiesisch und Französisch. Er ist Journalist, Übersetzer und Universitätslektor, mit Forschungsschwerpunkt Argentinien, Literatur und Diktatur. Einige Publikationen von Marianne Hirsch und Leo Spitzer: Marianne Hirsch, Leo Spitzer: Ghosts of Home. The Afterlife of Czernowitz in Jewish Memory. Berkeley und London: University of California Press 2010. Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative, and Postmemory. Cambridge: Harvard University Press 1997. Leo Spitzer: Hotel Bolivia: The Culture of Memory in a Refuge from Nazism. New York: Hill & Wang 1998. Webtipps: htip:/lczernowitz.chpes.com/ htip:/Ighosts_of_home.com/ Erich Fried-Bibliographie Im Auftrag der Internationalen Erich Fried Gesellschaft haben Volker Kaukoreit und Tanja Gausterer die bisher umfassendste Bibliographie der Publikationen Erich Frieds und der Sekundärliteratur zusammengestellt. Auf 222 Seiten findet man nun den Weg zu fast allem, was Fried je veröffentlicht und was über ihn zu seinen Lebzeiten geschrieben wurde. Auch die Periode 1989-2010, nach Frieds Tod 1988, ist in einer Auswahlbibliographie erfaßt. Aufzuarbeiten blieben noch seine Rundfunkbeiträge, die von der BBC gesendeten und auch die vielen Interviews. Zu finden ist die Bibliographie über die Homepage des Wiener Literaturhauses — man gebe einfach Fried Bibliographie in die Suchmaschine ein. Februar 2011 27