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ten und mischte sich ein, denn er glaubte, Fachmann auf allen Gebieten zu sein. Stalin hatte ein gutes musikalisches Gehör. Er sang gern Volkslieder zur Bojan (Harmonika). In der sibirischen Verbannung war er ein eifriger Leser schöner Literatur gewesen - in den zaristischen Lagern war dies noch eher möglich als in den stalinistischen. Stalin versäumte keine Aufführung seiner Lieblingsoper „Carmen“. Das Drama „Die weiße Garde“ Michail Bulgakows blieb trotz dessen Sympathie für die „Weiße Bewegung“ der bürgerlichen Demokraten im Repertoire des Moskauer Akademischen Künstlertheaters (MCHAT), weil Stalin dieses Werk schätzte. Der Diktator gab sich alle Mühe, als ein „Apollo, Schirmherr der Musen“ zu erscheinen. Dem Film galt seine Vorliebe. Mitte der 1930er Jahre weiteten sich die Verfolgungen auch auf die Kulturschaffenden aus. Jeder sollte nun ständig durch Wort und Tat seine Loyalität beweisen, seine Treue und Liebe zum Führer. Das Unvermögen zu solch einer Liebe kostete u.a. Osip Mandelstamm und Isaak Babel das Leben. Komponisten sollten in ihrem Schaffen die kommunistische Partei und die sowjetische Ordnung rühmen. Das Fehlen eines Lobliedes auf Stalin konnte einem Komponisten die Freiheit kosten. Stalin selbst entschied, wer den prestigeträchtigen Stalinpreis bekommen solle, wer mit einem Ehrentitel auszuzeichnen sei, seines Amtes enthoben oder gar als „Feind des Volkes“ gebrandmarkt werden solle, was einem Todesurteil gleichkam. Der Vorsitzende des Komponistenverbandes hatte dem Diktator persönlich Bericht zu erstatten. Eines Tages wies der Vorsitzende Dunajewski darauf hin, noch kein Loblied auf Stalin verfaßt zu haben. Die Freunde Dunajewskis waren beunruhigt: Das konnte schlecht enden. Weder seine Verdienste noch sein Ruhm hätten Dunajewski genützt. Er schrieb das geforderte Lied. Der Vorsitzende des Komponistenverbandes konnte Stalin berichten: „Genosse Stalin, Dunajewski hat Ihnen ein Lied gewidmet.“ „Ich weiß“, antwortete Stalin, „ich habe es angehört. Von allen seinen Liedern ist dieses das schlechteste.“ Unter den Filmen, zu deren Popularität die Musik Dunajewskis und die Verse des Liederdichters Wasilij Ljebedjew-Kumatsch (1885 — 1949) beitrugen, war „Zirkus“ (1936). Die heutige Generation kennt diesen Film nicht mehr, dennoch werden Lieder wie „Heimatlied“ und „Mondwalzer“ aus ihm weiter gesungen. „Heimatlied“ ist ein festlich-patriotisches Lied, erfüllt von Liebe zum Vaterland, seiner Weiträumigkeit, seinem Volk. Als die UdSSR im Zweiten Weltkrieg im Bündnis mit bürgerlich-demokratischen Ländern gegen den Faschismus kämpfte, war die „Internationale“ noch die offizielle Hymne. Das störte nun. Die für diese Frage geschaffene Kommission sprach sich für „Heimatlied“ aus. Stalin war dagegen, weil im Text weder die kommunistischen Partei, noch deren Führer Lenin und Stalin erwähnt waren. Außerdem konnte der Antisemit Stalin nicht zulassen, daß ein jüdischer Komponist Urheber der sowjetischen Hymne werde. Auf Geheiß des Diktators schrieben Sergej Michalkow (geb. 1913) und der Armenier Gabriel El-Regestan den Text, Alexander Alexandrow (1883 — 1946) die farblose Musik. Eine interessante Anekdote dazu: Als in New York bei den Feierlichkeiten zum Jubiläums der UNO die Hymnen der Griinderstaaten gesungen wurden, gab der amerikanische Chor statt der offiziellen Hymne unversehens Dunajewkis ,,Heimatlied“ zum besten. Bis heute sind die ersten Takte des „Heimatliedes“ Kennmelodie von Radio Moskau. 30 ZWISCHENWELT Es ist schwer, neue Melodien zu finden, und zudem solche, die der Zuhörers leicht behalten und für sich selber singen oder spielen kann. Nur die wenigsten bleiben im Gedächtnis. Den bekannten russischen Liederkomponisten der Nachkriegsjahre Anatolij Nowikow (1896 — 1984) fragte man, wie viele seiner Lieder bleiben würden. Er antwortete: „Eines!“ Die Zeit hat ihm recht gegeben. Nur sein Lied „Oh, die Wege“ singt man noch. Von Dunajewki hingegen wird vieles nach wie vor aufgeführt. Die Ouvertüre zum Film „Die Kinder des Kapitäns Grant“ nach dem Roman von Jules Verne und der Marsch aus dem Film „Zirkus“ gelten heute als Klassiker, gespielt von Symphonie- und Estradenorchestern. Gleiches gilt für Lieder aus den Filmen „Konzert von Beethoven“ (1936), „Die Glückssucher“ (1936), „Tormann“ (1936), „Reiche Braut“ (1938), „Wolga-Wolga“ (1938), „Frühling“ (1947), „KubanKosaken“ (1950). Vermutlich trug Dunajewkis Kriegseinsatz zu dieser Beliebtheit bei: Ein „Konzertzug“ brachte ihn an die Fronten. Die ganze Sowjetunion durchreiste er auf diese Weise mit Chor, Jazz- und Vokalensemble. Dunajewski ging seinem Schaffen auf einer von der Politik relativ entfernten Linie nach. Somit war eine gewisse Kontinuität hinsichtlich seiner Popularität gewährleistet. Ein Beispiel — eines unter vielen — zeigt das: Als Moskau 1997 sein 850jähriges Jubiläum feierte, suchte man ein unpolitisches patriotisches Lied, das zugleich allgemein menschliche Gefühle ausdrückt. Man nahm Dunajewkis „Lied über Moskau“. Den Text verfaßte der sowjetische Dichter jüdischer Herkunft Mark Lisjanski (geb. 1913). In der Zeit der „Postperestrojka“ (ab 1992) brachte der Hörfunk eine Sendung über den Nachkriegsfilm des Regisseurs Iwan Pyrjew „Kuban-Kosaken“. Ein Kritiker nannte den Film kommunistische Lügenpropaganda. In einer Zeit, in der die Bauern Nahrung und Kleidung entbehrten, wird die Kolchose als ein Ort des Wohlstands geschildert. Der Kritiker erzählte, daß die ausgehungerten Schauspieler die für die Aufnahmen bereitgestellten Früchte und Speisen aufgegessen hatten und der Aufnahmeleiter daraufhin Attrappen aus Papiermache herstellen ließ. Der ganze im Film gezeigte Überfluß an Wasser- und Zuckermelonen, Weintrauben, Rindfleisch und Schinken war nichts als Trug. Der Film folgte den Regeln des sozialistischen Realismus, alles in Rosa zu färben und das propagandistisch Erwünschte als Faktum auszugeben. Überraschend war hingegen die Aussage einer alten Kubankosakin, die den Film in ihrer Jugend geschen hatte: „Sie glaubten, wir wüßten nicht, daß das Leben in dem Film eine Lüge war. Wie sollten wir das nicht wissen? Ich habe mein ganzes Leben mit meinem Mann in der Kolchose gearbeitet und bekam Arbeitseinheiten, aber kein Geld. Wir lebten von Brot und Erdäpfeln, Fleisch nur an hohen Feiertagen. Was wir anbauten, nahm uns der Staat weg. Nur dank der Milchkuh und dem Hofgrundstück starben unsere Kinder nicht an Unterernährung. ... Den Film habe ich fünfmal angesehen. So oft man uns diesen Film vorgeführt hat, so oft hat das ganze Dorf ihn angeschaut ... Mit dem Film vergaßen wir unser dürftiges schweres Leben. Das Leben im Kino war so gut, Frauen und Männer so schön! Und wie schön waren Liebe und Gefühle! Und wie schön die Lieder! Sogar heute noch singen wir die Lieder aus diesen Film.“ Dunajewkis Werk zeichnet Vielseitigkeit aus, nicht nur in den Genres, auch innerhalb des jeweiligen Genres. Der „Marsch der lustigen Burschen“ z.B. ist nicht zum Marschieren bestimmt, son