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Nur Mutter Rozaüberlebt. Als im Oktober 1944 Belgrad befreit wird, schickt sie einen Briefan Titos Kampfgefährten, Dr. Ivan Ribar, mit dem Erich vor dem Krieg befreundet war. Es war abgemacht, dass er die Sammlung übernehmen und an das Nationalmuseum weitergeben solle. Um Weihnachten wird ihr signalisiert, dass das Geschenk willkommen sei. Es soll der Grundstock für das von Frich erträumte Museum moderner Kunst werden. Zu Jahresende werden die Metallkassetten zusammen mit einigem Hausrat der Slomovids aufeinen Güterwaggon geladen, Mutter Roza will das Vermächtnis ihres Sohnes persönlich überbringen und fährt in Begleitung eines Hausmädchens im Waggon mit. Um 3 Uhr früh, kurz vor Belgrad stößt der Zug bei Velika Plana mit einem entgegen kommenden zusammen, beide in voller Fahrt, der Waggon mit der Nummer 113 springt aus den Schienen, die Wände zerbersten und die Kisten stürzen auf die Geleise. Mutter Roza, eine mitfahrende Frau und deren zwei kleine Kinder werden von dem umstürzenden Gepäck erschlagen. Das Bauernmädchen aus Bacina ist die einzige Überlebende. Der Aufprall ist so heftig, dass es auch im Gegenzug zahlreiche Tote und Verletzte gibt. Dieser ist voll besetzt mit bulgarischen Soldaten. Die Züge stehen ineinander verkeilt aufder Strecke. Die Tragödie will es so, dass gerade Ende 1944 der strengste Winter herrscht, mit minus 40 Grad die tiefsten je am Balkan gemessenen Temperaturen. Als die Soldaten sehen, wie sich aus dem umgestürzten Waggon Möbel, Truhen, Balken, Holzwolle, Mappen und Papierblatter ergießen, heizen sie neben den Geleisen ein Feuerchen an, ein Geschenk des Himmels, Glück im Unglück bei dieser Eiseskälte sich die erfrorenen Glieder aufwärmen und einen Tee brauen zu können. Die ölbedeckten Leinwände brennen zwar nicht gut, sie qualmen und stinken, aber das Holzder Rahmen eignet sich gut zum Unterfeuern. Bis die Behörden eintreffen, ist ein guter Teil der Gemalde und Zeichnungen ein Raub der Flammen. Den Rest liefert Ribar im Nationalmuseum ab, wo man ungepriift davon ausgeht, dass es keine iiberlebenden Slomovi¢s mehr gibt. Und auch davon sind viele Stücke verschwunden, weil es üblich war, dass verdiente Partisanenführer, Generäle und Parteibonzen sich zum Ausschmücken ihrer Villen, Land- und Jagdhäuser in den Museen bedienten. Immer wieder berichteten Diplomaten im Nachkriegs-Jugoslawien, dass ihnen Bilder der französischen Avantgarde günstigangeboten worden seien. Sicher ist, dass sich im Nationalmuseum nur ein geringer Teil des Vollard-Schatzes befindet. Aus Israel werden 330 Werke gefordert, das Nationalmuseum listet 350 Werke französischer Impressionisten in seinem Besitz auf, davon aber nur 125 aus der Slomovié-Schenkung. Die Vollard-Erben bestreiten die „Schenkung“ von allem Anfang an und wollen gar 550 Stück zurück - nur von wem? Von den verfrorenen Heimkehrern bei Velika Plana? Von den verstorbenen Partisanen-Generälen? Im ersten Belgrader Prozess ist nichts klar geworden, außer dass die Geschichte eine furchtbar komplizierte Angelegenheit ist und ihre Verwerfungen noch Jahrzehnte später nachwirken. Aber das weiß man am Balkan ohnedies. Das Urteil vor dem 1. Belgrader Bezirksgericht sprach die verbliebenen 125 Bilder den israelischen Slomovid-Erben zu, theoretisch. Sicher ist sicher: Vom Tag des Prozesses an wurde die moderne Abteilung des Nationalmuseums geschlossen und den Angestellten bei Androhung der Kündigung ein Redeverbot erteilt. Nachtrag: Einer der letzten Filme, den das alte Jugoslawien 1989 produzierte, war „Der Spender“ von Veljko Bulaji€ mit Ljubomir Todorovie in der Hauptrolle. Es ist ein monströses Machwerk, eine ungenießbare und bösartige Mischung aus verlogener Partisanenromantik und neuem serbischen Nationalismus. Mit diesem Film sollte Belgrads Anspruch auf die Rechtmäßigkeit des Bilderbesitzes und den Rest der Vollard-Sammlung untermauert werden. Vollard wird als eine mit hoher Stimme lispelnde alte, fette, eitle Tunte dargestellt, die in Göring-Manier den Künstlern die Bilder um einen Suppenlöffel und eine Brise Kokain abluchst. Slomovi£ ist der strahlende Held und Patriot, der seine geliebte Heimat sogar in Zeiten größter Not und unter großem persönlichem Risiko mit Reichtümern beschenkt und — dafür! — von den Nazis ermordet wird. Der Familienchronist der Slomoviés und notorische Kommunistenhasser, Momo Kapor, richtet den Blick auf einen anderen Aspekt der mysteriösen Affäre und stellt die grob-bange Frage: „Was ist der Wert der Kunst, wenn sich dreckige Partisanen mit Degas‘ Baletttänzerinnen den Hintern auswischen können?“ Verstreutes „Erinnerung ist nicht einfach, sie wird gemacht, individuell und in Kollektiven.“ Der Zeitgeschichtler, der dies schrieb, schlug in eine mit dem plumpsten Schlag und dem ungeschicktesten Werkzeug nicht mehr zu verfehlende Kerbe. Mich interessiert die Satzbildung: „Erinnerung ... wird gemacht ...“ Ein Satz, in dem das Subjekt nur Objckt ist. Wer macht da also? Als Zeitgeschichtler sollte man die für das Erinnerung-Machen zuständige Dienststelle aufspüren oder zumindest eine Machbarkeitsstudie vorlegen. Solange diesbezügliche Studien nicht durchgeführt sind, behaupte ich: Erinnerung wird nicht gemacht. Daß Erinnerung sich immer im Flusse befindet, sich wandelt, verzweigt, verschwindet, wieder auftaucht, aber nie versiegt, weiß doch jeder Mensch. Und daß das, was jemand als seine Erinnerung ausgibt, von den Umständen abhängt, ist ebenfalls kein Geheimnis. Erinnerung ist kein festes Ding, kein Souvenir, das man bei Bedarf, verstaubt oder nicht, aus dem Seelenschrank fischen kann. Vielleicht isolieren sich spezielle Erinnerungen, die allzu oft hervorgekramt wurden, zu Anekdoten, sind dann wie abgeschliffene Kiesel in einem Bach, werden austauschbar. Nur der Geschmack des eigenen Erlebens bleibt an ihnen haften. „Erinnerung“ ist eines jener Wörter, um dessen willen die Einen die deutsche Sprache wegen der Verwirrung, die sie stiftet, verfluchen, während sich den Anderen gerade in diesem Wort die besondere Eignung des Deutschen für die Philosophie erweist. Niemand stellt sich etwas vor, faßt einen Gedanken, ohne sich zu erinnern. Jeder Gedanke durchläuft die Erinnerung, lebt aus der Erinnerung. Auch der Zeitgeschichtler, der irgendeine subjektlose Substanz oder Instanz Erinnerung machen läßt, erinnert sich, indem er dies denkt, auch wenn das Erinnerte namenlos bleibt und die Schranken akademischen Gedächtnisses nicht überwindet. „Das Versäumte hat die Macht, dem Kommenden zu helfen. Also erinnern wir uns“, schrieb Berthold Viertel zu einer Zeit, als die nationalsozialistische Mordmaschinerie, der viele unserer Väter und Großväter dienten, noch nicht zerschlagen war. Viertel, Weggefährte des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, meinte nun, Erinnerung sei nicht nur rückwärtsgewandter Traum von verlorenen Paradiesen, sondern auch Verweis auf nicht Eingelöstes, eigensinnig auf dem Weg zu uns, Gerechtigkeit fordernd und eine andere Zukunft. Der Status des Erinnerns hatte sich damals verändert. Mai2012 7