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Anton Holzer Bergblumen in schwarz-weiß Als sein erstes und einziges Buch erschien, war Fred Plisner schon weit über 70. Seine Lebenserinnerungen erschienen 1994 zunächst auf Englisch (,, Gravity is getting me down“, London, Heinemann Verlag) und ein Jahre später unter dem Titel „Die Lust der Schwerkrafi. Roman eines Lebens“ im Berliner Aufbau Verlag auf Deutsch. Kurz nachdem die deutsche Ausgabe herausgekommen war, habe ich Fred Plisner kennengelernt und zu einer Lesung nach Innsbruck eingeladen. Aus dieser ersten Begegnung entstand eine jahrlange Freundschaft. Plisner, am 14.10. 1919 in Wien geboren, war von Beruf Handwerker. Im Wien der 1930er Jahre wurde er zum Schlosser ausgebildet, in England, seinem Exilland und seiner zweiten Heimat, arbeitete er ebenfalls als Schlosser und später bis zu seiner Pensionierung als Berufschullehrer für Metallbearbeitung. Erst spät hat er mit dem Schreiben begonnen. Er betrieb die Schriftstellerei mit anarchischem Elan. Und so wie er schrieb, lebte er auch. Ich habe etwa den wilden Garten um sein kleines Haus in der Nähe von Cambrigde in Erinnerung: ein Stück Land, auf dem er in den 1950er Jahren Schweine züchtete, später Gemüse, bis es immer mehr zur Wildnis wurde und schließlich zum Kiinstlergarten, in dem er seine selbstgemachten Skulpturen aus Eisen aufstellte. Bis ins hohe Alter war Fred Plisner voller Neugierde, vor allem fiir Menschen und die kleinen, alltdglichen Dinge des Lebens. Immer war er zu Widerspruch und Diskussion bereit. In „Die Lust der Schwerkraft“ erzählt Fred Plisner seine eigene Lebensgeschichte. Es ist eine ganz gewöhnliche und doch zugleich höchst ungewöhnliche Geschichte eines Wieners jüdischer Herkunft, der nach seiner Flucht im Jahr 1938 durch halb Europa getrieben wird, um schließlich in England eine zweite Heimat zu finden. Als Erzähler dient Plisner ein Alter Ego, nämlich Alfred Klausner, eine Figur, die immer wieder um Distanz zur autobiografischen Erinnerung bemüht ist und gelegentlich auch kommentierend, abwägend, selbstkritisch in die Geschichte eingreift. Plisners Erinnerungen sind geprägt von leisem, trockenem Humor. Sein Buch, das er selbst als einen „voreingenommenen Bericht von Geschehnissen“ beschreibt, ist in meinen Augen eines der eigenwilligsten und witzigsten autobiografischen Bücher, die in den letzten Jahren zum Thema Nationalsozialismus, Flucht und Emigration erschienen sind. Und dennoch: Bei aller lakonischen Zuspitzung ist der Autor weit davon entfernt, das Unglaubliche und Tragische seiner eigenen Lebensgeschichte anekdotisch zu glätten. Während die englische Ausgabe des Buches großen Erfolg hatte, blieb die deutsche von der Kritik weitgehend unbeachtet. Inzwischen ist „Die Lust der Schwerkraft“ längst vergriffen. Immer wieder hat Fred Plisner über eine Neuauflage seines Buches gesprochen. Er durfte sie nicht mehr erleben. Plisner ist am 28. Dezember 2011 im Alter von 92 Jahren in der Nähe von Cambridge gestorben. Der folgende Beitrag ist eine persönliche Erinnerung an einen wenig bekannten Wiener Schrifisteller - und zugleich eine Art Nachruf. Der Text erschien erstmals am 10. Juli 1999 in der Feuilletonbeilage „Spectrum“ der Tageszeitung „Die Presse. Als ich ihn zum ersten Mal am Bahnhof in Innsbruck erwartete, wusste ich bereits einiges über ihn. Ich war durch Zufall auf seinen autobiografischen Roman „Die Lust der Schwerkraft“ gestoßen, hatte ihn begeistert gelesen und glaubte danach, den Autor 8 _ ZWISCHENWELT irgendwie zu kennen. Fred Plisner, geboren 1919, aufgewachsen in Wien, 1938 geflüchtet, nach einer Odyssee durch Europa in England gelandet. Seit den 50er Jahren lebt er in Cambridge. Als wir am Landhausplatz vorbeigingen, fragte ich ihn, ob er schon einmal in Innsbruck gewesen sei. Ja, meinte er nachdenklich, aber das sei schon lange her, 1938, auf seiner Flucht, da sei hier gerade eine Naziveranstaltung gewesen, er hätte sich daher nicht lange aufgehalten und sei mit dem Bus gleich weitergefahren, Richtung Grenze. Einige Jahre später holte ich das Buch wieder hervor und suchte mir noch einmal die Stelle, in der Plisner seine Flucht über Tirol ins Engadin schilderte. Es sind nur ein paar Seiten. Aber ich blieb hängen an dieser Stelle. Die „heilige“ Tiroler Grenze, die im patriotischen Phantasma immer von außen bedroht war, von den Franzosen Napoleons bis zu den Italienern, hatte Ende der 30er Jahre für eine Gruppe von Menschen und für kurze Zeit ihre Vorzeichen umgekehrt. Die Gefahr kam von innen, sie zu überschreiten bedeutete, sich in Sicherheit zu bringen. Die meisten Juden, die in die Schweiz flüchteten, gingen über die Vorarlberger Grenze, einige wenige aber auch über den kurzen Tiroler Grenzabschnitt. Was ist das für ein Gebiet, das 1938 als Fluchtweg genutzt wurde? In der Geschichtsschreibung war dieser Ort ganz in der Nähe des Reschenpasses zu Italien in Vergessenheit geraten. Niemand erinnerte sich daran, dass hier in den Bergen einigen Flüchtlingen das Überleben geglückt ist. Unter ihnen war Fred Plisner. Diesen Ort wollte ich kennenlernen. Als ich eines Tages Fred Plisner in Cambridge anrief und ihn fragte, ob er Lust hätte, den Weg über die Berge, den er damals, 1938, gegangen war, zusammen noch einmal zu gehen, war er sofort einverstanden. Ja, ja, hatte er geantwortet, sobald der Schnee im Frühjahr es zuließe, könnten wir losgehen. Er würde diesmal nach München fliegen und einen Abstecher nach Innsbruck machen, bevor er, wie jedes Jahr im Frühjahr, Wien besuchte. Die Vorbereitungen der Wanderung nahmen dann doch mehr Zeit in Anspruch als ich gedacht hätte. Kartenmaterial musste besorgt werden, die Karten schickte ich nach Cambridge, Fred zeichnete mit erstaunlich sicherer Hand die Route ein, schrieb ein paar Bemerkungen an den Rand, trug gewissenhaft Ausgangspunkt und Endpunkt der Wanderung ein. Ich selbst wollte das Gelände ein wenig sondieren, um sicherzustellen, dass der Weg auch gangbar ist. Immerhin war Fred inzwischen knapp 80 geworden und im Gebirge war er schon Jahrzehnte nicht mehr unterwegs gewesen. Dann, an einem Samstag Morgen ist es soweit. Von Innsbruck aus nähern wir uns im Auto der schweizerischen Grenze. Fred sitzt still neben mir, gespannt blickt er aus dem Fenster. Erinnert er sich? Geht ihm sein Fluchtweg von damals durch den Kopf? Oder sein Abschied in Wien? Oder das Schlangestehen vor den Konsulaten unterschiedlichster Länder? Er war damals, im Sommer 1938, gerade 18 geworden. „In unserem Falle,“ erinnert sich Plisner in seinem Buch, „wollte keine Regierung helfen. Konnten nicht helfen, sagten sie. Beim besten Willen nicht. Also nun, seid mal vernünftig, sagten sie. Die USA hatten Quoten für jedes Land.